Hans Georg Ruhe über „Die Überlebenden“

Hans Georg Ruhe über „Die Überlebenden“

Alex Schulman:

Die Überlebenden

Drei Brüder treffen sich nach Jahrzehnten wieder, um die Asche ihrer Mutter nahe dem familiären Sommerhaus zu verstreuen. Sie teilen ihre Erinnerungen, ihre gegenseitigen Verletzungen, schildern scheinbar emotionslos das schräge Verhalten der Mutter und das Bemühen des Vaters – immer gedämpft durch deren elterlichen Alkoholismus.

Allmählich taucht in den Erinnerungen ein Unfall auf, der Fixpunkt und Katastrophe der Familie ist. Man beginnt Kälte, Wut und die leise Verzweiflung zu verstehen.

Der schwedische Autor Alex Schulman montiert Vergangenheit und Gegenwart gekonnt und schickt den Leser immer wieder in die stillen Abgründe einer Familie – einer Familie, die nicht lieblos aber entfremdet scheint.

Das Buch „Die Überlebenden“ war in Schweden sehr erfolgreich und wurde in 31 Sprachen übersetzt.

Alex Schulman: „Die Überlebenden“, dtv, 304 Seiten, ISBN 9783423148535, Preis: 13,00 Euro.


Lena Scholz über „Todesmärchen“

Lena Scholz über „Todesmärchen“

Andreas Gruber:

Todesmärchen

Schon ab Band eins hat mich die Reihe um Maarten S. Sneijder und Sabine Nemez in ihren Bann gezogen. Fesselnd und überraschend schreibt Andreas Gruber mit zahlreichen, nicht vorhersehbaren Plot-Twists über die Abenteuer dieser zwei Ermittler, die unterschiedlicher nicht sein könnten, doch im Team besser funktionieren, wie kein anderes.

Maarten S. Sneijder mit seiner unvergleichlichen Art und Sabine Nemez mit ihrer Hartnäckigkeit dem Mörder, aber auch Sneijder die Stirn zu bieten.

Wenn ich anfange, in einem dieser Bände zu lesen, kann ich nicht mehr aufhören, so anschaulich und packend schreibt Andreas Gruber. Ein absolutes Muss für alle Krimi-Leser und die, die es noch werden wollen.

Andreas Gruber: „Todesmärchen“, Goldmann TB, 544 Seiten, ISBN 9783442483129, Preis: 12,00 Euro.


Finale der Jugendbuchwoche

Finale der Jugendbuchwoche

Abschied mit einer Preisträgerin

Wollte man es mit Dichterfürst Goethe formulieren, müsste man von „Willkommen und Abchied“ sprechen: Die BÜCHER-HEIMAT hieß die Autoren der Jugendbuchwoche 2024 im Rahmen einer gemeinsamen Lesung willkommen. Und die BÜCHER-HEIMAT verabschiedete nun bei einer Lesung die „Eselsohr“-Preisträgerin Annette Mierswa.

Ganz korrekt gesagt, ist es die Harzburger Aktion, die seit Jahrzehnten das Jugendbuch fördert und maßgeblich dafür ist, dass die Stadt Bad Harzburg den Jugendliteraturpreis „Eselsohr“ ausgelobt hat. Vor 35 Jahren war Klaus Kordon mit „Wie Spucke im Sand“ der erste Preisträger. In diesem Jahr nun konnte Annette Mierswa für „Unsere blauen Nächte“ die renommierte Auszeichnung entgegennehmen.

Die Harzburger Aktion, die Stadt(bücherei), die BÜCHER-HEIMAT und die Bad Harzburg-Stiftung, die die eigentliche Eselsohr-Trophäe finanziert, sind in den vergangenen Jahren eine ebenso feste wie starke Allianz rund um den Jugendliteraturpreis eingegangen. Ein strapazierfähiges Band, das den Preis ebenso wie den Veranstaltungsreigen an den Schulen und in der BÜCHER-HEIMAT sicher trägt.

Die Jugendbuchwoche 2024 ging nun also mit einer gut besuchten Veranstaltung in der BÜCHER-HEIMAT zu Ende. Annette Mierswa stellte dabei erneut ihr nun preisgekröntes Buch „Unsere blauen Nächte“ vor. Ein eindrücklicher Roman über die Risiken des Alkoholkonsums bei Jugendlichen … und dennoch oder gerade vor diesem Hintergrund auch eine Liebesgeschichte.

Zwei Jahre wird es nun dauern, dann können sich die Bad Harzburger erneut auf eine „Eselsohr“-Lesung freuen. Im Jahr 2026 steht wieder eine Verleihung des Jugendbuchpreises an.

Annette Mierswa: „Unsere blauen Nächte“, Loewe Verlag, 240 Seiten, ISBN 9783743214545, Preis: 9,95 Euro.

Markus Weber über „Ein Tag im Leben von Abed Salama“

Markus Weber über „Ein Tag im Leben von Abed Salama“

Nathan Thrall:

Ein Tag im Leben von Abed Salama

Es gibt derzeit wohl kaum ein Thema, das so mit Emotionen und einseitigen Parolen aufgeladen ist wie der Nahostkonflikt und die Situation in Israel und Palästina. Da ist es sehr wohltuend ein Buch zu lesen wie das des israelischen Schriftstellers und Journalisten Nathan Thrall. Er wurde für dieses Buch in den USA zurecht in diesem Jahr mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Thrall erzählt eine Geschichte, die auf Tatsachen beruht: Zu Beginn bringt Abed Salama seinen Sohn Milad, der voller Vorfreude ist, zum Bus, mit dem die palästinensische Vorschule der Siedlung nahe Jerusalem einen Ausflug machen möchte. Doch schon bald erfährt der Vater, dass der Bus in einen schrecklichen Unfall verwickelt ist. So begibt Abed sich auf eine unendlich scheinende Suche nach Milad, immer wieder behindert durch Hindernisse der politischen und bürokratischen Verhältnisse.

Im Buch begegnen wir den unterschiedlichen Menschen, die mehr oder weniger direkt mit dem Unfall und der Suche zu tun haben: anderen Vorschulkindern und deren Eltern, dem Busfahrer, dem Fahrer des verursachenden LKW, einer palästinensischen Ärztin, Sanitätern, dem Gründer einer israelischen Siedlung in der Nachbarschaft, Vertretern der palästinensischen Autonomiebehörde und der Israelischen Armee und vielen anderen. So erzählt Thrall aus vielen verschiedenen Perspektiven, die die Tragödie verdeutlichen.

In die Erzählung sind Abschnitte eingefügt, die im Stile eines Sachtextes erklären, wie sich die politische Situation entwickelt hat oder die Sperranlagen, die palästinensische von israelischen Siedlungen trennen, geplant und gebaut wurden. Karten ergänzen die Informationen und machen sie anschaulich.

Ebenso hilfreich und weiterführend sind Verzeichnisse der beteiligten Personen, Literaturangaben und ein Stichwortverzeichnis. Es ergibt sich ein einfühlsames Bild, das die systematische Benachteiligung der palästinensischen Bevölkerung und die Ungerechtigkeit der israelischen Siedlungspolitik anschaulich werden lässt.

Doch auch die Einblicke in die palästinensische Gesellschaft und die Zerstrittenheit der politischen Gruppierungen der Palästinenser tragen dazu bei, die verfahrene Situation zwischen Palästinensern und dem Staat Israel zu begreifen, ohne Hass zu säen.

Nathan Thrall: Ein Tag im Leben von Abed Salama. Die Geschichte einer Jerusalemer Tragödie, Pendragon-Verlag 2024, 336 Seiten, ISBN 978-3865328830, 26,00 Euro

Matinee um ein deutsches Debüt

Matinee um ein deutsches Debüt

Besondere Aktion für ein besonderes Buch
An dieser Veranstaltung war im Grunde alles besonders. Die Zeit. Eine Matinee am Sonntagvormittag war für die BÜCHER-HEIMAT eine Premiere. Das Trio. Das drei Leute ein Buch vorstellen, ist auch eher selten. Das Buch. Der „Weg des Zaunkönigs“ des kanadischen Erfolgsautors Philipp Schott ist das erste belletristische Werk, das der Verlag der BÜCHER-HEIMAT herausgibt. „Wie immer“ war so allein das Publikumsinteresse. Bis auf den sprichwörtlich letzten Platz…

Beifall für ein starkes Trio

Petra Nietsch, die dem deutschen „Zaunkönig“ mit ihrer Initiative und dann mit ihrer Übersetzung Flügel verlieh, hatte mit Lektor Hartmut Frenk (Germanist und langjähriger Leiter der Große Schule Wolfenbüttel) sowie mit Organisatorin, Co-Lektorin und BÜCHER-HEIMAT-Chefin Sonja Weber Partner gefunden, die allein durch die intensive Arbeit an der deutschen Ausgabe von Philipp Schotts Buch einen ganz besonderen Zugang zu dem Roman des Kanadiers haben.

Den drei Protagonisten gemeinsam gelang es eindrucksvoll und facettenreich zu vermitteln, wie das Buch von Kanada nach Bad Harzburg kam, welche Herausforderungen es bei der Übersetzung gab, warum dieser Roman sich von den vielen anderen unterscheidet, die über die NS-Zeit geschrieben wurden, warum Ludwig, der Erzähler, so ein besonderes Kind ist und welche Rolle der Harz in dieser Geschichte spielt.

Ein literarischer Sonntagvormittag mit anregenden Gedanken und einladenden Leseproben vor dem stets interessierten Bad Harzburger Publikum war angekündigt worden. Dank eines großartigen Buches und dank dreier großartiger Vortragender übertraf die Matinee die Erwartungen…


Lesetipps

Als Hors d’œuvre für den „Weg des Zaunkönigs“ empfehlen wir einen Blick in zwei Rezensionen, die bislang von Leserinnen eingegangen sind. Da wäre zum einen Petra Nietschs Betrachtung noch des kanadischen Originals „The Willow Wren“. Unter dem Eindruck der gemeinsamen ehrenamtlichen Aktion zur Veröffentlichung der deutschen Ausgabe schrieb Lena Scholz ihre Gedanken zum „Weg des Zaunkönigs“ nieder.

Philipp Schott: „Der Weg des Zaunkönigs“, Verlag der BÜCHER-HEIMAT, 340 Seiten, Preis: 14,90 Euro.

Lena Scholz über „Der Weg des Zaunkönigs“

Lena Scholz über „Der Weg des Zaunkönigs“

Philipp Schott:

Der Weg des Zaunkönigs

Zuallererst möchte ich mich bei Petra Nietsch und Philipp Schott, sowie allen, die am Zaunkönig mitgearbeitet haben, bedanken.

Danke, dass ich dieses Buch lesen durfte.

Ihr habt mich an einer berührenden Geschichte eines Jungen teilhaben lassen, der zwischen anfänglichem Wohlstand und später bitterer Armut in den Kriegsjahren aufwuchs. Eine große Familie mit vielen Geschwistern, die zerfiel durch politische Ansichten, Krieg, Vertreibung, Missgunst und die trotz ihrer Fehler in den bittersten Zeiten zusammenstand, weil es das Einzige war, was sie am Leben hielt.

Dieses Buch hat mir einen Eindruck vermittelt, was es bedeutet im Krieg aufzuwachsen und zu leben. Fakten, die auf Erinnerungen basieren und die mehr Eindruck hinterlassen, als es eine Geschichtsstunde in der Schule je könnte.

Es hat mich berührt, wie tapfer und willensstark Familie Scheck nicht nur um das Überleben kämpfte, sondern für das, woran sie glauben. Jeder auf seine Weise.

Ein Buch, das an die Gesellschaft appelliert, dass sich so etwas wie der 2. Weltkrieg und Krieg in jeglicher Form niemals wiederholen darf. Und das uns das Schicksal unserer Großeltern eine Lehre sein sollte.

Philipp Schott: „Der Weg des Zaunkönigs“, Verlag der BÜCHER-HEIMAT, 340 Seiten, Preis: 14,90 Euro.


Bettina Luis über „Hey, guten Morgen, wie geht es Dir?“

Bettina Luis über „Hey, guten Morgen, wie geht es Dir?“

Martina Hefter:

Hey, guten Morgen, wie geht es Dir?

(Deutscher Buchpreis 2024)

Ich empfehle auch diesen modernen, aktuellen und emotional packenden Roman gerne, denn er liest sich leicht und kurzweilig, wenn auch schleichend bedrückend. Hefter greift existentielle Themen ernsthaft auf. Leichtigkeit, Tanz und Spiel erschaffen dann aber auch immer wieder drumherum einen bewegenden Kosmos in dem (unter dem) Sehnsüchte und Ängste in wunderbar gelingenden Bemühungen letztlich in einer erträglichen Balance gehalten werden!?

JUNO liebt ihren schwer MS-kranken Mann JUPITER. Beide haben die Mitte ihres Lebens hinter sich, allzu viele Worte und direkte Nähe gibt es selten, außer in den Pflegesituationen. Aber eine tiefe und ehrliche Liebe verbindet sie.

Jupiter ist Schriftsteller, nicht allzu berühmt, Juno ist engagierte Balletttänzerin und Performancekünstlerin. Das Einkommen des Paares ist knapp und unregelmäßig. Ihre Altbauwohnung und der Bewegungsradius sind extrem eingeschränkt. Man ist isoliert, oft auf fremde Hilfe angewiesen. Der Alltag mit Rollstuhl gestaltet sich für beide mühsam, kräftezehrend und soziale Kontakte sind rar.

Juno schafft sich vor allem Freiräume durch ihre Tanzprojekte, sie genießt absolut jede Probe, jedes Training.  Abends aber bleibt sie zu Hause bei Jupiter, nicht nur aus Pflichtgefühl, sie ist besorgt, will ihm im Nebenzimmer wirklich nahe sein. In zwei getrennten Räumen leben sie so in not-wendiger Distanz.

Jupiter schreibt an einem Roman, verfolgt das kurze Leben einer Wildbiene im Insektenhotel auf dem Balkon. Juno verbringt im Netz nachts ihre Zeit mit LOVE-SCAMMERN (digitalen Heiratsschwindlern), die sie immer durchschaut, selber anlügt und dann mit Genugtuung bloßstellt.

BENU enttarnt sie so eines Nachts als mittellosen Nigerianer, der zwangsweise als Love-Scammer arbeitet. Eine vorsichtige, zunehmend lügenfreiere Freundschaft entsteht. Die Welt weitet sich für Juno. Afrika/Nigeria rücken näher, aber damit auch die Probleme globaler Spaltung. Jupiter erzählt sie nichts von ihren „Treffen“ mit Benu. Die Chats bleiben scheinbar eher oberflächlich, sie beschreiben sich unwichtige Alltäglichkeiten, bleiben verhalten in ihren Beobachtungen des jeweils anderen. Hey, guten Morgen, wie geht es dir?

Juno liebt die Sterne, die Sternbilder und die Astronomie überhaupt. Die Sterne sind es, die Entfernungen überbrücken, Kontinente, Welten verbinden können. Und doch: MELANCHOLIA (Film 2011, L.v.TRIER) liegt als Endzeit-Katastrophe wie ein drohender Schleier über dem Roman.

HEY, Martina HEFTER, Herzlichen Glückwunsch zum Deutschen Buchpreis 2024! Sechs Titel standen auf der Shortlist, ich habe zwei davon gelesen: HEY, GUTEN MORGEN, WIE GEHT ES DIR und den Anti-Idylle-Roman von Markus Thielemann VON NORDEN ROLLT EIN DONNER. Es wäre vermessen, die Entscheidung der Frankfurter Jury in Frage stellen zu wollen, aber ich sag es ehrlich: Für mich persönlich wäre M. Hefters Roman die zweite Wahl gewesen. HEY, GUTEN MORGEN, WIE GEHT ES DIR? So geht es MIR! Andere LeserInnen mögen ganz anders urteilen. Lesenswert ist dieser Roman aber allemal!

Martina Hefter: „Hey, guten Morgen, wie geht es Dir?“, Klett-Cotta 2024, 224 Seiten, ISBN 9783608988260, Preis: 22,00 Euro.


Bettina Luis über „Huch, ein Buch!“

Bettina Luis über „Huch, ein Buch!“

Kai Lüftner / Wiebke Rauers:

Huch, ein Buch!

Oder: Die anderen Seiten des Hubert B.

Huch! Eines Morgens erwachte Hubert und war ein Buch. Man kann sich darüber streiten, doch er hatte wirklich viele Seiten und, wie er fand, einen viel zu dicken Einband. … Er begann in den nächsten Tagen damit, durch die eigenen Seiten zu schlagen … zu lachen und sich einen Reim auf sich selber zu machen.“

Dass Kafkas Gregor Samsa eines Morgens als Käfer erwachte, wird natürlich sofort erinnert, und ist von Lüftner genau so beabsichtigt. Ebenso wie viele der anderen lustigen Anspielungen auf bekannte Literatur: Vom Winde verdreht, Tausend und eine Nacht, Tausend Meilen unterm Meer, Fünfzig Schattierungen von Grau, …

Nachdem Hubert B. sich selbst als zwar kompliziertes, aber liebenswertes Gedicht erkannt hat, beginnt er, auch die vielen anderen Seiten seiner Mitmenschen zu aufzuschlagen. Und Lüftner lässt Hubert B. deren Lebensbücher in wunderbar humorvollen, liebenswerten Reimen beschreiben. „So wurd Hubert klar, es bleibt zu berichten, jeder erzählt seine eigenen Geschichten.“

Die Botschaft: Jeder Mensch schreibt sich als Lebensbuch selber – und jedes einzelne Buch ist es wert, aufgeschrieben und gelesen zu werden! Das können übrigens auch Schulkinder schon verstehen.

Wiebke Rauers hat Lüftners Lesereisen anrührend lebendig illustriert. Ihre warmen Farbtöne und die ausdruckstarken Gesichter und Bewegungen der Figuren erleichtern das bildhafte Eintauchen in durchaus philosophische Erkenntnisse. Huch, dieses Buch! Dass es so was Schönes gibt!

Kai Lüftner / Wiebke Rauers: „Huch, ein Buch! Oder: Die anderen Seiten des Hubert B.“, Verlag Coppenrath 2024, 40 Seiten, ISBN 9783649672296, Preis: 15,00 Euro.


Markus Weber über „Hindenburg auf dem Kyffhäuser“

Markus Weber über „Hindenburg auf dem Kyffhäuser“

Matthias Steinbach:

Hindenburg auf dem Kyffhäuser

Wie wollen und können wir mit Hinterlassenschaften der deutschen Vergangenheit, die nicht ins demokratische Wertesystem zu passen scheinen, umgehen? Dieser Frage geht Matthias Steinbach, Professor für Geschichte in Braunschweig, am Beispiel des Kyffhäuser-Denkmals und speziell des dort 1939 von den Nazis aufgestellten Hindenburg-Denkmals nach. Zwischenzeitlich war das Denkmal von den Sowjets gestürzt und vergraben worden, heute liegt die wieder freigelegte Statue im Graben der Kyffhäuser-Anlage – quasi wie Schneewittchen im gläsernen Sarg.

Steinbach geht der Geschichte Hindenburgs intensiv und detailliert nach, behandelt seine wechselvollen Rollen im Ersten Weltkrieg als „Sieger von Tannenberg“, als schillernde Identifikationsfigur in der Weimarer Republik und zuletzt als „Steigbügelhalter Hitlers“. Immer waren Tatsachen mit Mythen verbunden. Steinbach verfolgt Tatsachen und Mythen kreuz und quer durch die Geschichte.

Selbstverständlich bezieht er Erkenntnisse und Kontroversen der Geschichtswissenschaften in seine Darstellung ein. Ungewöhnlich ist die Darstellung dagegen in anderer Hinsicht. So reflektiert er seine eigenen Erfahrungen als Schüler, Student und NVA-Soldat in der DDR und bezieht diese ebenso ein wie die Befragung unterschiedlichster Personen wie etwa des Kiosk-Betreibers auf der Kyffhäuser-Anlage, wobei auch Anekdotisches Bedeutung bekommt. Dabei zeigt sich, wie die Person Hindenburgs ebenso wie das Denkmal und deren Wahrnehmung von den unterschiedlichsten Interessen benutzt wurde.

Gerade das Sperrige dieser Vorgehensweise ist spannend. Nichts wird letztlich geglättet. Hinzu kommt immer wieder die Einbeziehung grundlegender Einsichten von Dichtern und Philosophen, die auf den konkreten Fall bezogen werden. Nicht allem muss man dabei zustimmen – etwa: Führen Utopien immer zu Gewalt? – aber immer sind die Aussagen anregend und nachdenkenswert, gerade weil unterschiedlichste und subjektive Perspektiven zur Sprache kommen.

Steinbach erinnert daran, „dass immer die jeweilige Gegenwart der Ort ist, wo die Irrtümer beginnen“. Wer zu solchen Gedankengängen und auch Wortspielen Lust hat und sich für Geschichte interessiert, dem sei das unterhaltsame Buch empfohlen.

Matthias Steinbach: Hindenburg auf dem Kyffhäuser oder Wie entsorgt man deutsche Geschichte?, Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale) 2024, 220 Seiten, ISBN 978-3963119224, Preis: 20,00 Euro.

Ein Nachsatz zu Bad Harzburg:

Vielleicht kann ja das Buch auch Anregung sein, über die Umbenennung des Westrings 1933 unmittelbar nach der „Machtergreifung“ in Hindenburgring nachzudenken. Der Verfasser der Stadtchronik, Kurt Neumann, hatte seit vielen Jahren immer wieder eine offene Debatte darüber gefordert und eine Umbenennung der Straße in den Raum gestellt. Bisher war das nie zustande gekommen.

Markus Weber über „Deutschlandtour“

Markus Weber über „Deutschlandtour“

Hasnain Kazim:

Deutschlandtour

Buchcover Deutschkandtour

Hasnain Kazim wurde in Oldenburg geboren und ist aufgewachsen in Hollern-Twielenfleth im Alten Land, ein Dorf, das er als seine Heimat bezeichnet, auch wenn er im Laufe seines Lebens an zahlreichen anderen Orten und in anderen Ländern gelebt hat.

Als leidenschaftlicher Radler hat er sich für ein Jahr aufgemacht, um entlang großer deutscher Flussläufe zu radeln, Land und Leute auf sich wirken zu lassen und mit unterschiedlichsten Menschen ins Gespräch zu kommen. Er macht das nicht zuletzt, weil er – wie ich finde zurecht – die Gesprächssituation in unserem Land bedroht sieht und davon überzeugt ist, dass Menschen unterschiedlicher Meinungen sich weigern, einander zuzuhören.

Man merkt, dass der Autor sich für die Menschen interessiert, für deren Sorgen und Einstellungen. Er hört zu und diskutiert, streitet gelegentlich, wo es ihm nötig erscheint. Nicht immer gelingt das Gespräch. Aber es gelingt ihm sehr viele Perspektiven auf Deutschland zu sammeln und ein Mosaik deutscher Befindlichkeiten in den verschiedenen Regionen zusammenzustellen.

Zahlreiche Fotos in der Buchmitte illustrieren seine Eindrücke. So ist gerade die Unterschiedlichkeit kennzeichnend und wertvoll für Deutschland, die nicht auf die Gegensätze Ost-West reduziert werden darf, wie das gerade derzeit geschieht. Nach jeder Route zieht er Bilanz und überlegt, was er gelernt hat und welche Fragen aufgeworfen wurden.

Immer wieder kommt auch seine Identität als Deutscher mit migrantischen Wurzeln ins Spiel, die von verschiedenen Seiten infrage gestellt wird. Auch da hört er genau hin: Die Frage „Woher kommst du?“ kann ausgrenzend gestellt sein mit dem Unterton: „Du gehörst hier nicht hin!“, aber auch interessiert an der Familiengeschichte und am Gespräch.

Viele der Themen, die aktuell in der deutschen Politik und Gesellschaft debattiert werden, kommen zur Sprache, wobei Kazim zuhört, aber auch mit seiner Meinung, die er häufig abwägend und sachlich einbringt, nicht hinterm Berg hält. Eine klare Grenze zieht er immer da, wo demokratische Spielregeln verletzt werden, rechtsextremistische und rassistische Positionen bezogen werden und Gewalt ins Spiel kommt.

Auch wenn ich nicht allem zustimme, finde ich diese Art des Umgangs mit Meinungsverschiedenheiten vorbildlich. Und ich würde mir wünschen, dass sein Buch zu einer besseren Gesprächsatmosphäre beitragen kann und viele Leser*innen findet.

So ganz nebenbei gibt es Tipps, welche – vor allem weniger bekannten – Städtchen einen Besuch lohnen und welche Abschnitte entlang der Flüsse für Rad-Touren besonders schön sind. Auch das ist ein nicht zu verachtender Gewinn. Nur schade, dass er nicht entlang der Oker, Aller und Weser geradelt ist. Da hätte ich gerne etwas über seine Entdeckungen und Gespräche erfahren.

Hasnain Kazim: Deutschlandtour. Auf der Suche nach dem, was unser Land zusammenhält. Ein politischer Reisebericht, Penguin Verlag 2024, 352 Seiten, ISBN 978-3328601777, Preis: 25,00 Euro.