Markus Weber über „Die Holz- und Pappenindustrie im Harzburger Radautal“

Markus Weber über „Die Holz- und Pappenindustrie im Harzburger Radautal“

Edgar Isermann: Die Holz- und Pappenindustrie im Harzburger Radautal 1865 – 1961

Schon im vergangenen Jahr hat der Bad Harzburger Geschichtsverein das Buch herausgegeben, das leider bisher zu wenig Beachtung gefunden hat. Immerhin erzählt der Autor, Edgar Isermann, ein bedeutendes Kapitel der Harzburger Wirtschaftsgeschichte, deren Spuren zum Teil heute noch zu sehen sind.

Der Autor war zum Schreiben motiviert, weil seine Familiengeschichte mit der Holzindustrie im Radautal verbunden ist: Sein Großvater und sein Onkel haben eine der ehemaligen Fabriken lange Zeit geleitet. So kann Edgar Isermann nicht nur auf amtliche Dokumente zurückgreifen, sondern auch auf die Überlieferung der Familie. Und er hebt einen Teil der Harzer Industriegeschichte hervor, der nicht vergessen werden sollte und der im Buch anschaulich dargestellt wird. Dabei beschränkt der Autor sich nicht auf die eigene Familie, sondern blickt darüber hinaus auf andere Firmen.

Die Geschichte beginnt in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Aufstieg der Holzindustrie – Holz und Wasser waren ja durch die Natur reichlich vorhanden. Gleichzeitig war zunehmender Bedarf in der Papierindustrie vorhanden, für den die Unternehmen im Radautal die Vorprodukte lieferten.

Am bekanntesten ist sicher die Zusammenarbeit mit dem Henkel-Konzern, für deren Ata-Dosen Material geliefert wurde. Angesichts der Eingriffe in die Natur und den Wasserbedarf der Stadt blieben Konflikte nicht aus, die ebenso geschildert werden wie die Erfolge.

Das Buch ist großformatig aufgemacht, sodass die Gestaltung viel Raum für zahlreiche Abbildungen – Fotos, alte Ansichtskarten, Dokumente – hatte. Dadurch lädt es auch ein zum Blättern und Verweilen an der ein oder anderen Stelle. Man kann es selbstverständlich wie jedes Buch von vorne bis hinten lesen, aber man kann sich auch von Bildern oder Überschriften verleiten lassen und herausgreifen, was gerade attraktiv erscheint. Ich wünsche dem Buch, dass es in vielen Bad Harzburger Haushalten – und darüber hinaus – vorhanden ist.

Markus Weber über „Martin Luther King. Ein Leben“

Markus Weber über „Martin Luther King. Ein Leben“

Jonathan Eig: Martin Luther King. Ein Leben.

„… indem wir King quasi zum Heiligen machten, haben wir ihn ausgehöhlt.“ Jonathan Eig gelingt es in seiner Biografie, die 2024 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde, Martin Luther King nicht zum unangreifbaren Heiligen und Helden zu stilisieren, sondern einen Menschen mit seinen Träumen, aber auch mit Zweifeln und Sorgen, mit Ecken und Kanten zu beschreiben. Er verschweigt auch nicht die Affären mit verschiedenen Frauen, die seine Gegner gegen King verwenden wollten.

So entsteht ein lebendiges Bild von Martin Luther King, der mich seit meiner Jugend mit seinem Kampf gegen Rassismus und für Gewaltfreiheit beeindruckt, auch mit seiner Orientierung an biblisch-prophetischer Tradition. Und ich habe mir Zeit gelassen beim Lesen der umfangreichen Lebensbeschreibung. Da sind Kapitel, die mich persönlich berührt haben, weil sie nicht nur die Reden Kings wiedergeben, sondern sie einbetten in die zeitlichen Zusammenhänge und die Wirkung auf die konkreten Menschen seiner Zeit sehr anschaulich beschreiben.

Da sind aber auch Kapitel, die sehr detailliert verdeutlichen, wie seine Gegner versuchten ihm zu schaden, wie das FBI seine Hotelzimmer und private Wohnräume verwanzt und abgehört hat. Immer wieder wurde er kommunistischer Umtriebe verdächtigt. Und auch die US-Präsidenten, die ihn nach außen hin unterstützten, bekämpften ihn bei verschiedenen Vorhaben.

Eigs Buch zeigt ebenso die Brutalität der amerikanischen Gesellschaft, unter der vor allem die Schwarzen und andere Unterprivilegierte zu leiden hatten. Deutlich wird, wie weiße Rassisten mit offener Gewalt gegen die Bestrebungen der Bürgerrechtsbewegung, immer wieder auch gegen King und seine Familie vorgingen und staatliche Organe teilweise den Schutz verweigerten, sich sogar offen auf die Seite der Rassisten stellten.

Jonathan Eig ist ein beeindruckendes Werk gelungen, das zeigt, wie Martin Luther Kings Prinzipien gerade heute vor dem Hintergrund der amerikanischen Politik und der Weltlage nichts an Bedeutung verloren haben.

Jonathan Eig: Martin Luther King. Ein Leben, Deutsche Verlags-Anstalt 2024, 752 Seiten ISBN 978-3421048455, 34,00 Euro.

Markus Weber über „Rechter Geschichtsrevisionismus in Deutschland“

Markus Weber über „Rechter Geschichtsrevisionismus in Deutschland“

Jens-Christian Wagner/Sybille Steinbacher (Hrsg.): Rechter Geschichtsrevisionismus in Deutschland.

Rechter Geschichtsrevisionismus in Deutschland

Wer regelmäßig Leserbriefe in der Goslarschen Zeitung liest, wird immer wieder auf solche Leserbriefe stoßen, die die Geschichte für politische Botschaften nutzen und die Geschichte verdrehen: Da werden die Nazis zu Linksextremisten gemacht, die NS-Verbrechen verharmlost oder ein Ende der bisherigen Erinnerungskultur gefordert. Ich finde solche Verdrehungen gefährlich, gerade für unsere Demokratie.

Solcher Geschichtsverdrehung widmet sich der jetzt im Göttinger Wallstein-Verlag erschienene Sammelband. Herausgegeben wurde er von Jens-Christian Wagner, mehrere Jahre Leiter der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, heute Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, und Sybille Steinbacher, Professorin für Geschichte und Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt a.M.

Unterschiedliche Experten haben Beiträge zum gesamten Problembereich verfasst:

Zur Geschichte der Relativierung der Verbrechen und Bildung von Geschichtsmythen, die z.T. auf NS-Propaganda zurückzuführen sind. Es werden unterschiedliche Formen vorgestellt, aber auch die Akteure, Zeitschriften und Verlage, in denen diese Mythen Verbreitung finden.

Herauszuheben ist besonders Götz Kubitschek, der in Schnellroda einen rechten Verlag führt mit dem Ziel, rechte Propaganda zu betreiben und sagbar zu machen. Volker Weiß analysiert beispielhaft eine Rede Kubitscheks, der in martialischer Weise die Deutungshoheit über die Geschichte einfordert – mit den Worten: „Lasst uns Krieg führen!“ Mir hat das Buch geholfen, mich in solchen Fragen zu orientieren.

Letztlich geht es den Autoren des Sammelbandes darum, dass die Auseinandersetzung um eine faktenorientierte Geschichtsschreibung auch der Demokratie dient – und der „demokratischen Selbstverständigung in der Bundesrepublik“, und zwar zur Wahrung demokratischer Werte.

Jens-Christian Wagner/Sybille Steinbacher (Hrsg.): Rechter Geschichtsrevisionismus in Deutschland. Formen, Felder, Ideologie, Wallstein 2025, 205 Seiten, ISBN 978-3835358416, Preis: 20,00 Euro.

Markus Weber über „Hoffe“

Markus Weber über „Hoffe“

Papst Franziskus: Hoffe

Zugegeben: Bei Päpsten und Vatikan bin ich eher skeptisch und kritisch. Die Autobiografie von Papst Franziskus – die erste Autobiografie eines Papstes, die noch zu Lebzeiten erschienen ist – habe ich aber gerne gelesen und ich kann vielem zustimmen.

Das Buch ist vor allem da überzeugend, wo Franziskus von der Geschichte seiner Familie und seiner eigenen Geschichte schreibt. Diese verbindet er häufig mit seinen heutigen Überzeugungen und erklärt, wie und warum er zu seinen Einstellungen gekommen ist. So bringt er seinen ersten Besuch als Papst auf Lampedusa bei den im Mittelmeer gestrandeten Geflüchteten mit der Migrationsgeschichte seiner eigenen Familie von Italien nach Argentinien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammen. Das empfinde ich als authentisch und glaubwürdig.

So leitet er auch aus seinen Kindheitserlebnissen in einem bunt gemischten Viertel in Argentinien, in dem die Menschen unterschiedlicher Religionen und Herkunft zusammenlebten, vieles ab, was ihm als Papst heute wichtig ist: Dialog der Religionen, Toleranz und Achtung vor anderen Personen. Und er drückt seine Sorge aus, wo immer die Würde der Menschen nicht geachtet wird. Vor allem will er aber ermutigen zu einem tatkräftigen Einsatz für eine friedvolle, geschwisterliche Welt.

So sind es auch die Begegnungen mit konkreten und ganz unterschiedlichen Menschen, die er als prägend für sein Leben und die Entwicklung von Werten beschreibt – sei es mit der feministisch-marxistischen Chefin während seiner Ausbildung, die gegen die Diktatur in Argentinien kämpft, mit Geflüchteten aus unterschiedlichen Gegenden der Welt oder auch mit einem muslimischen Ayatollah im Iran. Immer sind solche Begegnungen von gegenseitigem Respekt geprägt. Das gilt auch für eine kleine Anekdote, als er in jungen Jahren seine Lehrerin als „Idiotin“ bezeichnete und sich entschuldigen musste – sie wurde später eine gute Freundin.

Gestört haben mich nur solche Passagen, in denen Franziskus zum „Predigen“ neigt; da hätte für mein Empfinden einiges gekürzt werden können. Und seine Einblicke in die Herrschaftsstrukturen im Vatikan bleiben leider nur angedeutet in den kleinen symbolischen Änderungen, bei denen er für sich selbst Insignien der Macht ablehnt und abgelegt hat. Und bei aller Wertschätzung für die Arbeit von Frauen – müssten dann nicht diese Strukturen auf den Kopf gestellt werden? Aber da ist auch die Macht – oder der Mut? – eines Papstes wohl nur begrenzt.

Es bleibt mein Gesamteindruck: Es ist ein Buch, das ganz für unsere Zeit geschrieben ist und sich entschieden einsetzt für die brennenden Themen wie Klimawandel und Naturzerstörung, Armut, Krieg und Frieden, menschenfeindliche Auswüchse des Kapitalismus. Und den Fremdenfeinden in Politik und Gesellschaft hat er einiges ins Stammbuch geschrieben, z.B.: „Wir müssen die Fluchtursachen in den Herkunftsländern bekämpfen, nicht die armen Menschen […] Denn die bittere Lektion aus der Geschichte lautet: Abschottung und Nationalismus haben fatale Folgen auch für jene, die sie propagieren.“

Während ich diesen Text schreibe, liegt Franziskus schon seit einiger Zeit im Krankenhaus und kämpft um sein Leben. Da schreibt er recht menschlich an einer Stelle an Gott gerichtet einen Wunsch für seinen eigenen Tod: „Du weißt ja, dass ich einigermaßen zimperlich bin, was körperliche Schmerzen angeht … Also bitte, mach, dass es nicht allzu wehtut.“ Möge ihm sein Wunsch erfüllt werden.

Papst Franziskus: Hoffe. Die Autobiografie, Kösel 2025, 383 Seiten, ISBN 9783466373536, 24,00 Euro.

Markus Weber über „Muslimisch-jüdisches Abendbrot“

Markus Weber über „Muslimisch-jüdisches Abendbrot“

Saba-Nur Cheema / Meron Mendel:

Muslimisch-jüdisches Abendbrot

Das Ehepaar Saba-Nur Cheema und Meron Mendel hatte zunächst für eine regelmäßige Kolumne in der FAZ die Texte geschrieben, die nun in Buchform vorliegen. Man kann sich gut vorstellen, dass die Texte in intensiven Gesprächen am Abendbrottisch der beiden entstanden sind.

Die kurzen Texte, die man nicht unbedingt in der Reihenfolge im Buch lesen muss, greifen jeweils in der öffentlichen Debatte diskutierte Themen auf. Oft ausgehend von konkreten Anlässen – beispielsweise dem Tatort am Sonntagabend oder der Geburt ihres ersten Kindes – nehmen sie Fragestellungen auf, die für das Zusammenleben der beiden, aber auch in unserer Gesellschaft insgesamt relevant sind. Wie sie zeigen, müssen sich Humor und ernsthaftes Nachdenken nicht ausschließen.

Im Vorwort heißt es: „Immer wieder versuchen wir zu verstehen, was das Kleine mit dem Großen verbindet, und wie ganz persönliche Lebensentscheidungen durch die Politik geprägt werden – und vielleicht auch umgekehrt?“ Das wird im Buch eingelöst.

Die thematische Bandbreite der Kapitel reicht beispielsweise von Erziehungsfragen über die Feier religiöser Feste, Kunstfreiheit, die Flüchtlingsdebatte, Geschlechterdebatten bis hin zum Nahostkonflikt. Die unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen der beiden – er ist aufgewachsen in einem säkularen Kibbuz in Israel, sie ist in Deutschland geboren und aufgewachsen als Tochter muslimischer Einwanderer aus Pakistan – werden deutlich und führen immer wieder zu spannenden Erkenntnissen und klaren Positionierungen, die mich angeregt haben. Und immer wieder fordern die beiden dazu auf, Mitgefühl für die jeweils andere Seite zu haben und dem Andersdenkenden Raum zu lassen.

Klare Kante zeigen die beiden gegen alle intoleranten Haltungen und dort, wo Rechte von Minderheiten missachtet werden. Demokratie zeichnet sich für sie dadurch aus, „dass Kontroversen nicht nur zugelassen, sondern ausdrücklich erwünscht sind.“ Das ist eine Haltung, der ich nur zustimmen kann und die ich oft vermisse. Deshalb wünsche ich mir, dass dieses Buch viele Leser*innen findet.

Saba-Nur Cheema/Meron Mendel: Muslimisch-jüdisches Abendbrot. Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung, Kiepenheuer & Witsch 2024, 208 Seiten, ISBN 978-3462007428, 22,00 Euro.

Markus Weber über „Die Bauernhochschule Goslar im Kontext“

Markus Weber über „Die Bauernhochschule Goslar im Kontext“

Spurensuche Harzregion e.V. &
Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege:

Die Bauernhochschule Goslar im Kontext

Der neue Sonderband in der Reihe „Spuren Harzer Zeitgeschichte“ widmet sich verschiedenen Aspekten der ehemaligen Bauernhochschule während des Nationalsozialismus in Goslar. Das ungewöhnliche Format – Din A4 quer – gibt viel Raum für illustrierendes und informierendes Bildmaterial, sodass sich das Thema nicht nur auf der Textebene anschaulich erschließt.

Der zentrale Beitrag von Carsten Grabenhorst widmet sich der Bauernhochschule selbst, ihrer Geschichte und Bedeutung für den Nationalsozialismus. Grabenhorst verdeutlicht, warum die heute noch weitgehend erhaltenen Gebäude und das Gelände, nahe am Bahnhof gelegen, ein historisch auch über Goslar hinaus bedeutsamer historischer Ort sind.

Entstanden sind Gelände und ein Teil der Gebäude im 19. Jahrhundert auf Initiative des gebildeten Bürgertums, das sich einen Ort für ein reges Vereinsleben schaffen wollte. Treibende Kraft für den Umbau und die Neuausrichtung ab 1933 war Reichsbauernführer Walther Darré, dessen rassistische Vorstellungen, die maßgeblich wurden, ebenso wie seine Biografie dargestellt werden.

Eingebettet wird die Entstehung der Bauernhochschule in die Agrarpolitik, die schon zu Beginn der NS-Herrschaft ideologisch ausgerichtet und per Gesetz abgesichert wurde. Dargelegt wird auch, warum Goslar, das in Konkurrenz zu anderen Städten, vor allem Wolfenbüttel, stand, als Standort ausgewählt wurde. Und schließlich wird die ideologische Ausrichtung anschaulich, von der die Lehrgänge in der Praxis geprägt waren.

In einem weiteren Beitrag des Bandes erläutert Cordula Reulecke, warum die ehemalige Bauernhochschule als Kulturdenkmal zu erhalten ist. Meike Buck verbindet den Goslarer Ort mit den Masseninszenierungen der jährlichen Reichserntedankfeste auf dem Bückeberg bei Hameln.

Der Bückeberg steht auch im Zentrum eines Beitrags von Stefan Winghart, der dafür plädiert, solch „unbequeme Denkmale“ zu erhalten. Zu guter Letzt zeigt Jens Binner das Potential der Bauernhochschule als besonderen Ort für die Erinnerungskultur.

Insgesamt erschließt der neue Band des Vereins Spurensuche Harzregion ein wichtiges Kapitel der Geschichte unserer Region.

Spurensuche Harzregion e.V. & Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege: Die Bauernhochschule Goslar im Kontext. Neue Forschungen zu einem Täterort in der ehemaligen Reichsbauernstadt Goslar. – Spuren Harzer Zeigeschichte, Sonderband 3 Papierflieger Verlag GmbH Clausthal-Zellerfeld 2024, 66 Seiten, ISBN 978-3-98870-004-9, 15,00 Euro.

Markus Weber über „Ein Tag im Leben von Abed Salama“

Markus Weber über „Ein Tag im Leben von Abed Salama“

Nathan Thrall:

Ein Tag im Leben von Abed Salama

Es gibt derzeit wohl kaum ein Thema, das so mit Emotionen und einseitigen Parolen aufgeladen ist wie der Nahostkonflikt und die Situation in Israel und Palästina. Da ist es sehr wohltuend ein Buch zu lesen wie das des israelischen Schriftstellers und Journalisten Nathan Thrall. Er wurde für dieses Buch in den USA zurecht in diesem Jahr mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Thrall erzählt eine Geschichte, die auf Tatsachen beruht: Zu Beginn bringt Abed Salama seinen Sohn Milad, der voller Vorfreude ist, zum Bus, mit dem die palästinensische Vorschule der Siedlung nahe Jerusalem einen Ausflug machen möchte. Doch schon bald erfährt der Vater, dass der Bus in einen schrecklichen Unfall verwickelt ist. So begibt Abed sich auf eine unendlich scheinende Suche nach Milad, immer wieder behindert durch Hindernisse der politischen und bürokratischen Verhältnisse.

Im Buch begegnen wir den unterschiedlichen Menschen, die mehr oder weniger direkt mit dem Unfall und der Suche zu tun haben: anderen Vorschulkindern und deren Eltern, dem Busfahrer, dem Fahrer des verursachenden LKW, einer palästinensischen Ärztin, Sanitätern, dem Gründer einer israelischen Siedlung in der Nachbarschaft, Vertretern der palästinensischen Autonomiebehörde und der Israelischen Armee und vielen anderen. So erzählt Thrall aus vielen verschiedenen Perspektiven, die die Tragödie verdeutlichen.

In die Erzählung sind Abschnitte eingefügt, die im Stile eines Sachtextes erklären, wie sich die politische Situation entwickelt hat oder die Sperranlagen, die palästinensische von israelischen Siedlungen trennen, geplant und gebaut wurden. Karten ergänzen die Informationen und machen sie anschaulich.

Ebenso hilfreich und weiterführend sind Verzeichnisse der beteiligten Personen, Literaturangaben und ein Stichwortverzeichnis. Es ergibt sich ein einfühlsames Bild, das die systematische Benachteiligung der palästinensischen Bevölkerung und die Ungerechtigkeit der israelischen Siedlungspolitik anschaulich werden lässt.

Doch auch die Einblicke in die palästinensische Gesellschaft und die Zerstrittenheit der politischen Gruppierungen der Palästinenser tragen dazu bei, die verfahrene Situation zwischen Palästinensern und dem Staat Israel zu begreifen, ohne Hass zu säen.

Nathan Thrall: Ein Tag im Leben von Abed Salama. Die Geschichte einer Jerusalemer Tragödie, Pendragon-Verlag 2024, 336 Seiten, ISBN 978-3865328830, 26,00 Euro

Markus Weber über „Hindenburg auf dem Kyffhäuser“

Markus Weber über „Hindenburg auf dem Kyffhäuser“

Matthias Steinbach:

Hindenburg auf dem Kyffhäuser

Wie wollen und können wir mit Hinterlassenschaften der deutschen Vergangenheit, die nicht ins demokratische Wertesystem zu passen scheinen, umgehen? Dieser Frage geht Matthias Steinbach, Professor für Geschichte in Braunschweig, am Beispiel des Kyffhäuser-Denkmals und speziell des dort 1939 von den Nazis aufgestellten Hindenburg-Denkmals nach. Zwischenzeitlich war das Denkmal von den Sowjets gestürzt und vergraben worden, heute liegt die wieder freigelegte Statue im Graben der Kyffhäuser-Anlage – quasi wie Schneewittchen im gläsernen Sarg.

Steinbach geht der Geschichte Hindenburgs intensiv und detailliert nach, behandelt seine wechselvollen Rollen im Ersten Weltkrieg als „Sieger von Tannenberg“, als schillernde Identifikationsfigur in der Weimarer Republik und zuletzt als „Steigbügelhalter Hitlers“. Immer waren Tatsachen mit Mythen verbunden. Steinbach verfolgt Tatsachen und Mythen kreuz und quer durch die Geschichte.

Selbstverständlich bezieht er Erkenntnisse und Kontroversen der Geschichtswissenschaften in seine Darstellung ein. Ungewöhnlich ist die Darstellung dagegen in anderer Hinsicht. So reflektiert er seine eigenen Erfahrungen als Schüler, Student und NVA-Soldat in der DDR und bezieht diese ebenso ein wie die Befragung unterschiedlichster Personen wie etwa des Kiosk-Betreibers auf der Kyffhäuser-Anlage, wobei auch Anekdotisches Bedeutung bekommt. Dabei zeigt sich, wie die Person Hindenburgs ebenso wie das Denkmal und deren Wahrnehmung von den unterschiedlichsten Interessen benutzt wurde.

Gerade das Sperrige dieser Vorgehensweise ist spannend. Nichts wird letztlich geglättet. Hinzu kommt immer wieder die Einbeziehung grundlegender Einsichten von Dichtern und Philosophen, die auf den konkreten Fall bezogen werden. Nicht allem muss man dabei zustimmen – etwa: Führen Utopien immer zu Gewalt? – aber immer sind die Aussagen anregend und nachdenkenswert, gerade weil unterschiedlichste und subjektive Perspektiven zur Sprache kommen.

Steinbach erinnert daran, „dass immer die jeweilige Gegenwart der Ort ist, wo die Irrtümer beginnen“. Wer zu solchen Gedankengängen und auch Wortspielen Lust hat und sich für Geschichte interessiert, dem sei das unterhaltsame Buch empfohlen.

Matthias Steinbach: Hindenburg auf dem Kyffhäuser oder Wie entsorgt man deutsche Geschichte?, Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale) 2024, 220 Seiten, ISBN 978-3963119224, Preis: 20,00 Euro.

Ein Nachsatz zu Bad Harzburg:

Vielleicht kann ja das Buch auch Anregung sein, über die Umbenennung des Westrings 1933 unmittelbar nach der „Machtergreifung“ in Hindenburgring nachzudenken. Der Verfasser der Stadtchronik, Kurt Neumann, hatte seit vielen Jahren immer wieder eine offene Debatte darüber gefordert und eine Umbenennung der Straße in den Raum gestellt. Bisher war das nie zustande gekommen.

Markus Weber über „Deutschlandtour“

Markus Weber über „Deutschlandtour“

Hasnain Kazim:

Deutschlandtour

Buchcover Deutschkandtour

Hasnain Kazim wurde in Oldenburg geboren und ist aufgewachsen in Hollern-Twielenfleth im Alten Land, ein Dorf, das er als seine Heimat bezeichnet, auch wenn er im Laufe seines Lebens an zahlreichen anderen Orten und in anderen Ländern gelebt hat.

Als leidenschaftlicher Radler hat er sich für ein Jahr aufgemacht, um entlang großer deutscher Flussläufe zu radeln, Land und Leute auf sich wirken zu lassen und mit unterschiedlichsten Menschen ins Gespräch zu kommen. Er macht das nicht zuletzt, weil er – wie ich finde zurecht – die Gesprächssituation in unserem Land bedroht sieht und davon überzeugt ist, dass Menschen unterschiedlicher Meinungen sich weigern, einander zuzuhören.

Man merkt, dass der Autor sich für die Menschen interessiert, für deren Sorgen und Einstellungen. Er hört zu und diskutiert, streitet gelegentlich, wo es ihm nötig erscheint. Nicht immer gelingt das Gespräch. Aber es gelingt ihm sehr viele Perspektiven auf Deutschland zu sammeln und ein Mosaik deutscher Befindlichkeiten in den verschiedenen Regionen zusammenzustellen.

Zahlreiche Fotos in der Buchmitte illustrieren seine Eindrücke. So ist gerade die Unterschiedlichkeit kennzeichnend und wertvoll für Deutschland, die nicht auf die Gegensätze Ost-West reduziert werden darf, wie das gerade derzeit geschieht. Nach jeder Route zieht er Bilanz und überlegt, was er gelernt hat und welche Fragen aufgeworfen wurden.

Immer wieder kommt auch seine Identität als Deutscher mit migrantischen Wurzeln ins Spiel, die von verschiedenen Seiten infrage gestellt wird. Auch da hört er genau hin: Die Frage „Woher kommst du?“ kann ausgrenzend gestellt sein mit dem Unterton: „Du gehörst hier nicht hin!“, aber auch interessiert an der Familiengeschichte und am Gespräch.

Viele der Themen, die aktuell in der deutschen Politik und Gesellschaft debattiert werden, kommen zur Sprache, wobei Kazim zuhört, aber auch mit seiner Meinung, die er häufig abwägend und sachlich einbringt, nicht hinterm Berg hält. Eine klare Grenze zieht er immer da, wo demokratische Spielregeln verletzt werden, rechtsextremistische und rassistische Positionen bezogen werden und Gewalt ins Spiel kommt.

Auch wenn ich nicht allem zustimme, finde ich diese Art des Umgangs mit Meinungsverschiedenheiten vorbildlich. Und ich würde mir wünschen, dass sein Buch zu einer besseren Gesprächsatmosphäre beitragen kann und viele Leser*innen findet.

So ganz nebenbei gibt es Tipps, welche – vor allem weniger bekannten – Städtchen einen Besuch lohnen und welche Abschnitte entlang der Flüsse für Rad-Touren besonders schön sind. Auch das ist ein nicht zu verachtender Gewinn. Nur schade, dass er nicht entlang der Oker, Aller und Weser geradelt ist. Da hätte ich gerne etwas über seine Entdeckungen und Gespräche erfahren.

Hasnain Kazim: Deutschlandtour. Auf der Suche nach dem, was unser Land zusammenhält. Ein politischer Reisebericht, Penguin Verlag 2024, 352 Seiten, ISBN 978-3328601777, Preis: 25,00 Euro.

Markus Weber über Rita Süßmuth: „Über Mut“

Markus Weber über Rita Süßmuth: „Über Mut“

Rita Süßmuth:

Über Mut

Um es gleich vorweg zu sagen: Nicht allen Aussagen von Rita Süßmuth stimme ich zu; und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – habe ich das Buch mit Gewinn gelesen. Denn zur lebendigen Demokratie gehört die Debatte mit Argumenten. Und der Autorin geht es vor allem um Grundhaltungen im eigenen Leben und in der Politik. Und die wichtigste Haltung ist für sie der Mut, zu eigenen Überzeugungen zu stehen, auch wenn das nicht immer auf Beifall stößt.

Für diesen Mut steht Rita Süßmuth mit ihrem Lebenswerk und so ist das kleine Buch eine Art Lebensbilanz. Als Ministerin und Bundestagspräsidentin hat sie glaubwürdig gezeigt, wie man mutig für das eintritt, was einem wichtig ist. Sie hat sich weder von Niederlagen noch von Bösartigkeiten mächtiger Männer entmutigen lassen, sondern ist ihren Weg gegangen, etwa für eine Stärkung der Rolle der Frauen in der Politik, in ihrem Einsatz für eine liberalere Abtreibungspolitik, in ihrem Aufklärungskurs in der Anti-Aids-Kampagne oder für eine liberale Einwanderungspolitik.

Süßmuth erzählt in ihrem Buch Geschichten über solche Erfolge und über schwierige Zeiten. Und für sie ist klar, dass es sich immer wieder lohnt, das anzupacken, was an Herausforderungen vor einem liegt. Sie zeigt großes Vertrauen in das, was Menschen schaffen können: Nach dem Scheitern kommt der Neubeginn.

Und die Autorin möchte uns heute ermutigen, das anzugehen, was nötig ist. Dabei wird sie konkret, kritisiert die derzeitige Regierungspolitik, die die großen Herausforderungen unserer Zeit – Klimawandel und Energiepolitik, Bedrohung der Demokratie im Inneren und von außen, Bildungspolitik, Fremdenhass – oft nur halbherzig angeht. Sie spart aber bei ihrer Kritik die Opposition nicht aus, die oft nur auf Wahlerfolge schielt, statt das inhaltlich Richtige zu tun.

Das Zupacken ist aber nur eine Seite des Handelns. Genauso viel Mut gehört zum Loslassen. Am Ende weiß Rita Süßmuth, dass sie mit ihren 87 Jahren nicht mehr die Politik der Zukunft bestimmen wird, sondern diese vertrauensvoll Jüngeren überlassen muss und kann. So wird das Buch im Epilog auch sehr persönlich, wenn sie über ihr eigenes Lebensende und ihre Endlichkeit nachdenkt. Ihr Glaube lässt sie getrost auf das zugehen, was mit dem Tod kommt – und vielleicht auch danach.

Rita Süßmuth: „Über Mut. Vom Zupacken, Durchhalten und Loslassen“, Bonifatius Verlag 2024, 160 Seiten, ISBN 978-3987900525, Preis: 18,00 Euro.