Heike Zumbruch über „Jahr der Wunder“

Heike Zumbruch über „Jahr der Wunder“

Louise Erdrich:

Jahr der Wunder

Zu Beginn des Jahres 2025 möchte ich Ihnen meine erstaunlichste Entdeckung des Jahres 2024 vorstellen. Ein „Indianerbuch“, aber nicht aus dem 18. oder 19. Jahrhundert, diese Geschichte spielt in Minneapolis im 21. Jahrhundert. Die Ich-Erzählerin Tookie erlebt ihr Jahr der Wunder 2020, nicht trotz, sondern gerade auch wegen der Einschränkungen durch die Pandemie.

Die Autorin betreibt in Minneapolis eine Buchhandlung mit dem Schwerpunkt auf „Indigenen Autoren“, denen sie mehr Aufmerksamkeit wünscht, ist sie doch selbst Ojibwe Native. In so einer Buchhandlung arbeitet auch Tookie, ebenfalls mit indigenen Wurzeln, und erlebt dort wundersames, erschreckendes und doch auch wunderbares. Als ihre große und Halt gebende Liebe Pollux lebensgefährlich an Covid-19 erkrankt, muss sie sich ihrer Vergangenheit stellen, ihrer eigenen Wurzellosigkeit und ihrer Abstammung.

Dieses Buch ist nur schwer einzuordnen. Es ist ein Buch über das Lesen, über Buchhandlungen, über Familie und Traditionen, über Aktuelles und Wurzeln. Die klugen Gedanken fasst Louise Erdrich in einer beinahe leichten Sprache. Der Text liest sich flüssig und beinahe nüchtern. Die Geschichte ist erschreckend, herzzerreißend, traurig, heiter, aktuell und bezaubernd.

Ich habe viel gelernt über „native americans“ in der heutigen Gesellschaft der USA. Wie sie heute leben, wie sie noch immer ihre Stammeszugehörigkeit pflegen, ihre Rituale abhalten und die Unsichtbarkeit in der weißen Bevölkerung ertragen.

Das Ende bleibt offen, fragile Gleichgewichte, ungelöste Fragen lassen den Leser weiterdenken. Die Bücherliste im Anhang zeigt, wie lebenswichtig Lesen sein kann.

„The Sentence“ – „Das Urteil“ ist der Originaltitel und bezieht sich auf Tookies Gerichtsurteil: 60 Jahre Haft!

Louise Erdrich: „Jahr der Wunder“, Aufbau Verlage GmbH, 464 Seiten, ISBN 9783351039806, Preis: 26,00 Euro.


Heike Zumbruch über „Die Galaxie und das Licht darin“

Heike Zumbruch über „Die Galaxie und das Licht darin“

Becky Chambers:

Die Galaxie und das Licht darin

Becky Chambers: Die Galaxie und das Licht darin, Cover

Der Planet Gora besteht aus Steinen und Staub und hat kein eigenes Leben hervorgebracht. Hier landen Raumfahrer nur, um die Wartezeit bis zur Freigabe ihres Weiterfluges zu verbringen, denn Gora liegt an einem interstellaren Verkehrsknotenpunkt. Hier betreiben Ouloo und Tupo ein „Etablissement“ – so steht es über dem Eingang – und haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den Aufenthalt dort so angenehm wie möglich zu gestalten.

Als das Satellitensystem des Planeten ausfällt, stranden drei Reisende bei „den besten Gastgebern des Universums“, drei verschiedene Spezies, die glauben, die jeweils anderen zu kennen. Fünf Tage lang müssen sie zusammen aushalten und in dieser Zeit werden (Vor-)urteile revidiert – sind Geduld und Toleranz gefordert.

Was sich wie ein langweiliger Plot anhört, ist bei Becky Chambers Roman „Die Galaxie und das Licht darin“ – ausgezeichnet mit dem Kurd Laßwitz Preis 2023 – ein fantasievolles und  spannendes Kammerspiel, zugleich aber auch weise und tiefsinnig. In gewohnt bezaubernder Weise beschreibt die Autorin ihre außergewöhnlichen und absolut unterschiedlichen Charaktere, deren jeweiligen Gesellschaften und das Bemühen sich zu verstehen und Nutzen für die persönliche Entwicklung aus der Unterschiedlichkeit zu ziehen. Diese fünf Tage werden für alle unvergesslich! Auch für den Leser, der mit Wehmut das Buch zuklappt.

Becky Chambers beschließt damit ihre Reihe aus dem Wayfarer-Universum, was ich sehr schade finde. Jedes Buch hatte immer auch eine Botschaft an uns im Hier und Jetzt. Gemeinsam, positiv und friedlich lassen sich viele Krisen meistern!

Becky Chambers: „Die Galaxie und das Licht darin“, Fischer Tor, 400 Seiten, ISBN 9783596707010, Preis: 13,00 Euro.

Heike Zumbruchs Rezensionen der weiteren Wayfarer-Romane:
Band 1: Die lange Reise zu einem kleinen, zornigen Planeten
Band 2: Zwischen zwei Sternen
Band 3: Unter uns die Nacht


Heike Zumbruch über „Das Weihnachtsgeheimnis“

Heike Zumbruch über „Das Weihnachtsgeheimnis“

Jostein Gaarder:

Das Weihnachtsgeheimnis

Gaarder, Das Weihnachtsgeheimnis

Heute möchte ich Ihnen ein Buch empfehlen, das keine Neuerscheinung ist, 1992 erschien es in Norwegen und 1998 in Deutschland. Ich habe es mehrfach meinen Kindern in der Adventszeit vorgelesen, es wurde uns nicht langweilig. Jedes Mal entdeckten wir etwas Neues darin.

Dieses Adventskalenderbuch des bekannten norwegischen Schriftstellers erzählt in 24 Kapiteln zwei Geschichten.

Zum einen, die von Joachim, der unbedingt einen Adventskalender haben möchte. Er sucht mit seinem Vater in der Stadt danach, aber einen Tag vor dem ersten Dezember ist das nicht so einfach. Doch sie haben Glück; in einem kleinen Buchladen steht ein alter, offensichtlich handgemachter Adventskalender, von dem der Buchhändler nur eine Ahnung hat, wie er in seinen Laden gekommen ist.

Die zweite Geschichte beginnt, als Joachim am nächsten Tag das erste Türchen öffnet. Ein Zettel fällt heraus, eng beschrieben mit winzigen Buchstaben und erzählt die Geschichte von Elisabet, die in einem Kaufhaus dem „Glockenlamm“ hinterherläuft und so ihrer Mutter verloren geht.

Hier beginnt eine Pilgerreise, die durch Raum und Zeit bis zurück zu Jesu Geburt in Bethlehem führt. Joachim und später auch seine Eltern verfolgen Elisabets Reise gespannt und versuchen das Geheimnis zu lösen. Der Autor verwebt geschickt beide Geschichten und vermittelt so viel Wissen über historische und religiöse Zusammenhänge und Ereignisse. Aber auch Wertvorstellungen und die wahre Bedeutung von Weihnachten – Liebe und Frieden, Teilen und Schenken – zeigt Gaarder in gewohnt unaufdringlicher Art auf.

Diese „Krimigeschichte“ ist kindgerecht geschrieben, aber auch interessant und spannend für die Großen. 1948 ist nämlich tatsächlich ein Mädchen in Norwegen verschwunden…

Die kleinen wunderschönen Illustrationen stammen aus der Feder von Rosemary Wells, einer der bekanntesten Kinderbuchillustratorinnen der USA.

Mit einer Altersempfehlung ab 6 Jahren eignet sich dieses Buch zum Vorlesen und zum Selberlesen. Aber immer nur ein Kapitel pro Tag!

Jostein Gaarder: „Das Weihnachtsgeheimnis“, dtv, 288 Seiten, ISBN 9783423626156, Preis: 12,00 Euro.


Heike Zumbruch über „Unter uns die Nacht“

Heike Zumbruch über „Unter uns die Nacht“

Becky Chambers:

Unter uns die Nacht

Im dritten Band ihrer vierteiligen „Wayfarer“-Reihe stellt Becky Chambers ihre Vorstellung von der Zukunft der Menschheit vor. Anhand verschiedener Charaktere schildert sie das Leben in der „Exodus-Flotte“. Ein Leben, in dem die Gemeinschaft über allem steht, denn nur gemeinsam konnten die Vorfahren der Protagonisten diese Flotte von Wohnschiffen planen und bauen – aus den Trümmern von Hochhäusern, Brücken und Industrieanlagen; aus den Trümmern der Welt, wie wir sie heute kennen.

In einer ersten Fluchtwelle flohen die Menschen, die es sich leisten konnten, von der Erde auf den Mars, um in künstlichen Habitaten als Kolonisten so weiterzuleben wie zuvor auf der Erde.

Erst als die Erde kurz vor dem Kollaps stand, haben sich die letzten Menschen zusammengetan, um mit Wohnschiffen ins Weltall zu fliehen – ohne Ziel, ohne Perspektive! Der Erstkontakt mit anderen intelligenten Spezies hatte noch nicht stattgefunden.

Diese Raumschiffe wurden nicht rein zweckmäßig gebaut, auch das Wohlbefinden seiner Bewohner wurde bedacht. Für die Bedürfnisse des Körpers und der Seele waren sie ebenso ausgelegt wie für die Funktionalität und die Sicherheit. Niemand sollte sich benachteiligt fühlen, keine*r einen Grund für Neid oder Überheblichkeit haben, niemand allein leben, niemand hungern oder dürsten oder frieren. Jede*r sollte sich wohl und sicher fühlen. Friedlich, ohne Gewalt, ohne Waffen, ohne Geld – mit viel Toleranz und Verständnis.

Auch viele Generationen später wird noch immer Tauschhandel betrieben und werden Traditionen gepflegt. Die Exodaner feiern und trauern in Gemeinschaft und fühlen sich füreinander verantwortlich. Ungeliebte Aufgaben werden in einer Lotterie verteilt und jede und jeder muss hin und wieder Reinigungsarbeiten verrichten, gärtnern oder in der Kanalisation arbeiten – und jede*r fügt sich, wenn das Los auf ihn/sie fällt.

Aber natürlich ist es nicht die pure Harmonie, die unter den mehreren Zehntausend Menschen auf einem Schiff, von denen es 37 gibt, herrscht. Die Schilderung des familiären und gesellschaftlichen Alltags ähnelt der heutigen Realität auf verblüffende Art und Weise, von den technischen Möglichkeiten einmal abgesehen. In einer fesselnden Geschichte verwebt die Autorin das Leben vieler Personen miteinander und schafft ein Bild von einer in Veränderung befindlichen Gemeinschaft.

Becky Chambers gelingt wieder eine sehr positive Perspektive für alle Bewohner der GU, auch für die menschlichen. Sehr klug verknüpft sie die heutige reale Gegenwart mit einer fiktiven Zukunft, in der es zumindest einem Teil der Menschheit, ebenso wie vielen anderen intelligenten Spezies, gelungen ist, Egoismus zu überwinden, Konflikte (beinahe) streitfrei zu lösen und die Freiheit des Einzelnen zu gewähren, obwohl oder gerade, weil die Gemeinschaft über allem steht.

Becky Chambers: „Unter uns die Nacht“, Fischer Tor, 464 Seiten, ISBN 9783596702626, Preis: 9,99 Euro.


Heike Zumbruch über „Zwei rechts, zwei links“

Heike Zumbruch über „Zwei rechts, zwei links“

Ebba D. Drolshagen:

Zwei Rechts, zwei Links

Geschichten vom Stricken

Cover Buch Zwei rechts zwei links

Dieses Buch hat meine Sicht auf eines meiner anderen Hobbys – neben dem Lesen – in vielfacher Hinsicht verändert.

Ebba D. Drolshagen reist mit uns zunächst auf der Suche nach den Anfängen der Strickgeschichte in die Vergangenheit, nur um festzustellen, dass wir nicht wirklich wissen, wann, wo und wie diese Handarbeitstechnik entstanden ist. Vermutlich stammt sie aus dem arabischen Raum – arbeiten wir deshalb von rechts nach links? – und kam mit den Mauren und Arabern im 8. Jahrhundert nach Spanien.

Sicher ist nur, dass im 13. Jahrhundert in Europa Handstricker-Gilden entstanden, die unglaublich feine und kunstvolle Arbeiten herstellten. Dort arbeiteten nur Männer mit Nadel und Faden und stellten hauptsächlich wunderschöne Seidenstrümpfe her. Kaum zu glauben, dass später von „Armutsstrickerei“ und „Heimarbeit“ die Rede ist. Und ab wann durften eigentlich Frauen stricken?

Wir lesen hier natürlich auch über verschiedene Stricktechniken und Materialien, über die Farben, Muster und, last but not least, die Wertschätzung für die Stücke und ihre Stricker*innen. Eigentlich ziehen wir nur eine Wollschlinge durch eine andere und das immer und immer wieder, aber was daraus entsteht, ist wunderbar.

Zum Beispiel der bekannte Norwegerstern, der in seiner Heimat den schönen Namen „Achtblattrose“ trägt, oder die vielfältigen Muster auf einem Shetlandpulli. Aber auch ein schlichter Schal ist etwas Besonderes, ein Unikat, mit den eigenen Händen hergestellt.

In meiner Jugend war Stricken verpönt, später strickten nur „Ökos“ und dazu wollten wir (noch nicht) gehören. Inzwischen kann Ebba D. Drolshagen von vielen Topdesigner*innen berichten, die diesem Handwerk einen ganz neuen Schub gegeben haben. Sie stellt auch große Plattformen im Internet vor, auf denen schier unendlich viele Menschen ihre Ideen weltweit miteinander teilen und erklärt, warum Strickanleitungen nicht immer kostenlos sind.

Den Auswirkungen des Strickens auf die physische und psychische Gesundheit, die Therapie von Strafgefangenen, Magersüchtigen und „wichtigen Herren mit Managerkrankheit…“, widmet die Autorin tatsächlich ein eigenes Kapitel.

Auch das Thema „Fehler“ hat seinen Platz in diesem Buch. Eine große Designerin regte an, sich von der Idee des Fehlers zu verabschieden und stattdessen von design features zu sprechen. Und das ist nicht die einzige Stelle zum Schmunzeln.

Dieses lehrreiche und unterhaltsame Buch hat mir mehr „Strick-Selbstbewusstsein“ gegeben, mir den Wert meiner Arbeit vor Augen geführt und meine Phantasie und meinen Mut beflügelt, mich an immer anspruchsvollere Handwerksstücke zu wagen.

Für Stricker*innen und alle, die es noch werden wollen, ein absolut empfehlenswertes Buch.

Ebba D. Drolshagen: „Zwei rechts, zwei links – Geschichten vom Stricken“, Suhrkamp Verlag AG, 251 Seiten, ISBN 9783518468142, Preis: 20,00 Euro.


Heike Zumbruch über „Zwischen zwei Sternen“

Heike Zumbruch über „Zwischen zwei Sternen“

Becky Chambers:

Zwischen zwei Sternen

Cover: Zwischen zwei Sternen

Auch der zweite Band der Wayfarerreihe hat mich wirklich begeistert. Ganz besonders deshalb, weil Becky Chambers nicht einfach noch ein Raumschiffabenteuer geschrieben hat. Dieser Versuchung hat sie zum Glück widerstanden – obwohl es doch beim ersten Mal so erfolgreich war…

In „Zwischen zwei Sternen“ begegnen wir zwei Figuren, die uns aus dem ersten Band schon bekannt sind. Ihre Lebensgeschichten werden in zwei Handlungssträngen abwechselnd erzählt. Da ist zunächst die Modderin Pepper, die auf der Wayfarer Lovelace begegnet, der empfindungsfähigen KI des Raumschiffs. Peppers Geschichte beginnt, als sie 10 Jahre alt ist und Jane 23 heißt. Sie lebt und arbeitet mit vielen anderen Kindern zusammen in einer Fabrik und sortiert, säubert und repariert Schrott jeder Art, sofern das noch möglich ist. Betreut werden die Kinder von „Müttern“, die sie bestrafen, wenn sie schlechtes Benehmen „machen“.

Als sich eines Tages die Möglichkeit zur Flucht bietet, nutzt Pepper/Jane 23 diese Chance, findet sich zwischen Schutthalden wieder, rennt um ihre Freiheit und findet Hilfe aus einer ganz unerwarteten Richtung… Ein Leben in Freiheit, aber auch voll Dreck, Verzweiflung, Hunger und Angst beginnt und dauert viele Jahre!

Lovelace‘ Geschichte beginnt, als sie die Wayfarer mit Peppers Hilfe verlässt und in einen Bodykit „einzieht“ – sie gibt sich selbst den Namen Sidra. Bodykits für KI sind in der Galaktischen Union (GU) streng verboten und es drohen harte Strafen. Das bringt einige Problem mit sich, zumal in Sidra ein Wahrhaftigkeitsprotokoll programmiert ist – Sidra kann nicht lügen.

Außerdem erfahren wir von ihren Problemen mit den eingeschränkten Möglichkeiten eines „Körpers“, der ihre Systeme vor große Probleme stellt und als sie sich tätowieren lässt, kommt es beinahe zum Systemabsturz. Zusammen mit Pepper und deren Freund Blue lebt sie auf der dunklen Seite eines Mondes, auf Port Coriol in einer multispeziären Gesellschaft und gemeinsam finden sie zu einer Lösung ihrer vielfältigen Probleme. Aber: Warum hat jede Spezies einen eigenen Waggon in der Unterwasserbahn?

Wieder erfahren wir viel mehr als nur diese beiden Geschichten. Becky Chambers erweitert unser Wissen um die Gesellschaften in der GU, ihre Entstehung, ihre dunklen Seiten, die Fehler in der Vergangenheit und ihre optimistischen Zukunftsaussichten. Es gibt z. B. ein „Lassen-wir-Planeten-mit-Leben-in-Ruhe-Gesetz“! Genau dafür verehre ich Becky Chambers, sie verliert sich nicht in Schlachtengetümmel, sondern zeichnet eine positive Zukunft, in der der Mensch nicht mehr die dominante Rolle spielt – ein ziemlich beruhigender Ansatz.

Nun brauche ich erst einmal Urlaub vom Weltraum – im nächsten Beitrag möchte ich Ihnen ein Buch über ein anderes meiner Hobbys vorstellen.

Becky Chambers: „Zwischen zwei Sternen“, Fischer Tor, 460 Seiten, ISBN 9783596035694, Preis: 13,00 Euro.


Heike Zumbruch über „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“

Heike Zumbruch über „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“

Becky Chambers:

Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten

Als begeisterter Leser von intelligenter Science-Fiction-Literatur war ich sofort angetan, als Sonja Weber dieses Buch bei einer Veranstaltung in der Bücher-Heimat (als letztes) vorstellte.

Becky Chambers hat mit einer unglaublichen Fantasie ein Universum erschaffen, in dem es vor intelligenten Spezies nur so wimmelt. Jede von einem anderen Himmelkörper, jede mit einer eigenen Physis, einer eigenen Gesellschaftsstruktur, einer eigenen Sprache – die mal tonlos mit Hautverfärbungen funktioniert, mal mit gurrenden, glucksenden Lauten, mal unterstützt durch Gesten – und einem eigenen Namen: Marsianer, Solaner, Exodaner, Harmagianer, Äluoner, Aandrisks, Sianat, und viele mehr.

Die Handlung ist angesiedelt in einer Zeit, die weit in der Zukunft liegt; 200 Jahre zuvor hatten die letzten Menschen die sterbende Erde Richtung Mars verlassen.

Ort der Handlung ist ein Raumschiff, das durchs All fliegt, um Tunnel zu bohren. Tunnel? Ja, lassen Sie sich überraschen. Die Crew ist bunt zusammengewürfelt und natürlich kommt es zu Reibereien, doch wenn es drauf ankommt, stehen alle zusammen. Aber: Warum liegen Teppiche auf den Treppenstufen in einem Raumschiff?

Natürlich ist auch die Technik weit fortgeschritten, von Imunobots bis zu einer empfindungsfähigen KI, speziellem Treibstoff und Bodykits, implantierten Ausweischips, künstlicher Gravitation, keimtötenden Blitzen …

Aber dabei belässt es Becky Chambers nicht, sie entwirft auch eine interstellare Gesellschaft, die eine gemeinsame Regierung für alle friedlichen Spezies gebildet hat – die Galaktische Union, die GU, die allen Mitgliedern Sicherheit und Schutz garantiert, aber auch strenge Gesetze und Regeln erlassen hat, mit teils drastischen Strafen bei Verstößen.

Zudem entwickelt die Autorin eine Theorie über die evolutionären Gesetze, die zur Entwicklung intelligenten Lebens auf einem Planeten oder Mond führen. Ähnlich wie physikalische Gesetze, die auch überall im Universum gelten.

Die wissenswerten Details über Geschichte, Gesellschaften, Wissenschaft und Technik werden wie nebenbei in Gesprächen der handelnden Personen wiedergegeben. Ebenso gesellschaftliche Ethik und Tabus. Durchaus auch kontrovers und nicht unkritisch der Entwicklung gegenüber.

Das Buch liest sich leicht und flüssig, mit vielen spannenden Sequenzen, die mir teils die Nachtruhe geraubt haben, denn wer kann ein Buch schon weglegen, wenn Weltraumpiraten am Werk sind? Zum Glück habe ich mir auch gleich Teil 2 und 3 (von 4) gekauft, so dass ich sofort weiterlesen konnte, nachdem ich die letzte der gut 500 Seiten verschlungen habe.

Nicht zuletzt wegen des optimistischen Ansatzes: Absolut empfehlenswert!

Becky Chambers: „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“, Fischer Tor, 544 Seiten, ISBN 9783596035687, Preis: 14,00 Euro.