Markus Weber über „Übertretung“

Markus Weber über „Übertretung“

Louise Kennedy:

Übertretung

Belfast 1975. Der Roman führt uns mitten hinein in den brutalen Bürgerkrieg in Nordirland. Terroranschläge, Polizeigewalt und -übergriffe sind an der Tagesordnung: „Ein Hund kommt für mich nicht in Frage“, sagt Gina, die Mutter der Hauptfigur des Romans. „Die Wahrscheinlichkeit, dass du eine Leiche findest, ist viel zu hoch.“

Und mitten in dieser Geschichte steckt die 24jährige Lehrerin Cushla Lavery, die an einer katholischen Grundschule arbeitet. Sie kümmert sich um ihre Klasse, besonders um Davy und seine Familie, dessen Vater bei einem Anschlag schwer verletzt wurde. Vor der Arbeit kümmert sie sich um ihre alkoholkranke Mutter, am Abend hilft sie ihrem Bruder in der Kneipe, die mitten im protestantischen Viertel liegt.

So begegnen wir zahlreichen unterschiedlichen Charakteren, die das Spannungsfeld der Gesellschaft ausmachen – beispielsweise dem Priester, der Gewaltfantasien vor den Schülern ausbreitet und von dem Cushla angewidert ist; ihrem Kollegen, der sie unterstützt; Protestanten, die die irische Sprache von ihr lernen wollen, sie aber auch argwöhnisch betrachten.

Gegen alle Vernunft beginnt Cushla ein leidenschaftliches Verhältnis mit dem protestantischen Anwalt Michael, der wesentlich älter und verheiratet ist. Ihre Liebe müssen die beiden verstecken – immer wieder ist Cushla hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe zu Michael und ihrer Eifersucht, ihn teilen zu müssen. Schon bald kommt die Vorahnung, dass diese Geschichte böse enden wird.

Der Roman zeigt auf beeindruckende Weise den Alltag inmitten der Gewalt und die Suche der Menschen nach einem Stück Normalität in dieser erschreckenden Situation. Die zwischenmenschlichen Hoffnungszeichen sind klein, aber es gibt sie.

Louise Kennedy: „Übertretung“, Roman, Steidl Verlag 2023, ISBN 978-3969992593, 306 Seiten, 25,00 Euro.

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Lenau Scholz über „Todesfrist“

Lenau Scholz über „Todesfrist“

Andreas Gruber:

Todesfrist

Sabine Nemez ist eine junge Kommissarin in München, die ihren ersten schwierigen Fall bekommt. Der Mörder entführt seine Opfer, ruft die Verbliebenen danach an, um ihnen 48 Stunden zu geben, den Fall zu lösen, sonst sterben sie.

Als Sabines Mutter ein weiteres Opfer wird und die Reihe der Opfer immer länger wird, wird ein Kollege vom BKA dazu gezogen, der nicht ganz normal ist. Maarten S. Sneidjer hat eine Quote von 97 Prozent, chronische Cluster-Kopfschmerzen, stiehlt Bücher, hasst Menschen, raucht Marihuana und trinkt Vanilletee. Den Sachverhalt möchte er immer in drei Sätzen formuliert haben.

Seltsamerweise möchte er ausgerechnet, dass Sabine ihm bei den Ermittlungen zur Seite steht und niemand anderes. Denn wie sich herausstellt, bleibt Sabines Mutter nicht das einzige Opfer und als sie herausfinden, dass der Täter nach einem bekannten Kinderbuch mordet, führt sie das auf eine heiße Spur…

Superwitzig und spannend! Sie werden sich köstlich amüsieren und das Buch nicht mehr aus der Hand legen.

Andreas Gruber: „Todesfrist“, Goldmann TB, 411 Seiten, ISBN 9783442478668, Preis: 12,00 Euro.

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Bettina Luis über „Beethovn“

Bettina Luis über „Beethovn“

Albrecht Selge:

Beethovn

Da hatte ich gerade erst die letzte Seite des derzeitigen Bestsellers von Florian ILLIES, ZAUBER DER STILLE, gelesen und das Buch ungern, aber mit einem anerkennenden Lächeln geschlossen. Es hatte mich inhaltlich und stilistisch wirklich für Casper David Friedrich, diesen mir irgendwie Ja und doch nicht richtig bekannten romantischen Maler eingenommen. Endlich eine Biographie, die mich richtig gefesselt hatte!

Noch immer davon „bezaubert“, empfiehlt mir ein Freund  BEETHOVN von ALBRECHT SELGE aus dem Jahr 2020. Also, nach der Malerei nun auf ins Reich der Musik! Beethoven, natürlich kenne ich ihn, habe mich ja durch manche Klavierpartitur gequält. Auch dass er am Ende seines Lebens komplett taub war, weiß doch jeder. Wie auch nicht wenige davon überzeugt sind, dass „höhere Mächte“ ihm seine schon zu Lebzeiten bewunderten Werke auf das Notenblatt „diktiert“ haben sollen. Aber viel mehr wusste ich ehrlich gesagt nicht mehr.

Nach SELGEs Lektüre aber ist alles anders! Mein erster Gedanke: Hat Florian ILLIES diesen Albrecht SELGE gelesen? Hat Illies sich stilistisch und kompositorisch u.U. bewusst an SELGEs kreativen, ebenfalls ganz unkonventionellen und kurzweiligen Biographie- und Sprachstil angelehnt?

Egal, ich habe  wunderbar „erhellende“ Stunden mit BEETHOVN, BEETHOWEN, BETHOFN, BET-OFEN oder „VAN Beethowen“, der so gern ein „VON Beethoven“ gewesen wäre, verbracht! A. SELGE „malt“ kunstvoll in einzelnen Kapiteln detaillierte Bilder des alternden Meisters, seines Alltags und seiner Musik: B. WAR NICHT DA, B. SCHLIEF, B. SCHLUG, B. SCHRIEB, B. BADETE, B. Aß, B.SCHLIEF (wieder) und letztendlich: BEETHOVEN STARB. 

Immer sind da B. nahestehende Mitmenschen, Vertraute, Verstorbene, vor allem jene blinde feministische gute Geistin, die Ahnin und unerreichbare Geliebte verschmelzen lässt. Sie alle schauen aus ihren Augen auf und in Beethovens Familiengeschichte, bedenken jene „unvollendete“ große Liebe, erleben seinen chaotischen Alltag, seine Schaffenskrisen.

Die Unwilligkeiten des Genies, der sich zunehmend aus der Welt zurückzog, zu viel trank und mehr und mehr weigerte, seiner Fangemeinde zu entsprechen, fordern jeden dieser Mitmenschen heraus, sich dieser großen Persönlichkeit gegenüber irgendwie zu verhalten: Egal ob es die schimpfende Haushälterin ist oder der „Wunschsohn“, jener Neffe Karl, den B. als „Möchtegernvater“ durch seinen übergriffigen Erziehungsstil wenig Raum zur Entfaltung schenkt.

A. SELGE überlässt den einzelnen Figuren ihren eigenen Erzählstil, sodass auch wichtige Phasen und Gedanken ihres eigenen Lebens Raum und Sprache finden. Zeiten und Figuren verschwimmen, Chronologie tritt zugunsten spannender Sprünge durch die Geschichte in den Hintergrund.

Und noch etwas ist an BEETHOVN mehr als phantastisch: A. Selges Sprache! Virtuos komponiert er ausladende Langsätze, die unvermittelt in Satzfragmenten enden können und jenseits aller Interpunktionsregel daherkommen. Und wenn ALBRECHT SELGE dann neben philosophischen Kernaussagen B. sagen lässt:  ICH BIN WAS DA IST und gleichzeitig humorvoll die geliebten Vögel, wenn auch ungehört, TICKITICKERN lässt, dann zaubert dieser oft laute BEETHOVN sprachlich herausragend seine ganz eigene zauberhafte Stille.

Albrecht Selge: „Beethovn“, Rowohlt Taschenbuch, 237 Seiten, ISBN 9783499276750, Preis: 12,00 Euro.


Petra Nietsch über „Alte Wege“

Petra Nietsch über „Alte Wege“

Robert MacFarlane:

Alte Wege

The Old Ways

„Alte Wege ist kein Sachbuch und keine Prosa, kein Wanderführer, kein Lyrikband und keine Lebenshilfe, doch von allem etwas und vor allem ein Werk, das beim Lesen Anstöße gibt.“
Christian Mückl, Nürnberger Zeitung

Besser hätte ich es nicht ausdrücken können. Wenn ich dieses Buch nicht geschenkt bekommen hätte, hätte ich es vermutlich niemals gelesen, was sehr schade gewesen wäre.

Der Autor, Robert MacFarlane wandert auf alten Pfaden meist in England, Schottland, aber auch Palästina, Nepal und Spanien. Und diese erweckt er zum Leben, denn er beschreibt, wieviel Geschichte oder Geschichten in ihnen stecken.

Wer ist diesen Weg vor vielleicht 5000 Jahren gelaufen und warum? Wie haben Wind und Wetter diese möglicherweise verändert? Wie haben sie das Leben der Menschen geprägt und, und, und. Er betrachtet den Begriff „Weg“ unter ganz verschiedenen Aspekten, manchmal philosophisch, spirituell oder literarisch.

Das Buch hat sechzehn Kapitel, die inhaltlich mehr oder weniger abgeschlossen sind. Mehr als eins habe ich an einem Tag meistens nicht geschafft, denn jedes regt zum Nachdenken an.

Immer mal wieder wird es auch sehr detailliert und wissenschaftlich, worüber ich dann gerne mal hinweggelesen habe, aber an diesen Stellen kann jeder für sich selbst entscheiden, wie sehr er sich mit dem Thema auseinandersetzen möchte. Trotz dieser gelegentlichen intellektuellen Hürden, wollte ich  das Buch nie aus der Hand legen, sondern war im Gegenteil immer neugierig auf das, was als Nächstes kommt.

In jedem Fall ist das Buch gut lesbar, denn als Literaturprofessor in Cambridge ist MacFarlane mit Worten vertraut, auch zitiert er regelmäßig Schriftsteller, die mit der Natur verbunden waren. So auch Robert Frost und sein berühmtes Gedicht: „The Road Not Taken“ .

Ein Buch, aus dem verschiedenste Einzelheiten noch lange in Erinnerung bleiben werden, dass meines Erachtens ganz unterschiedliche Menschen anspricht und dass in jedem Fall nachhallt.

Robert MacFarlane: „Alte Wege”, Matthes & Seitz Verlag, 346 Seiten, ISBN 9783957572431, Preis: 38,00 Euro.

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Markus Weber über „Das späte Leben“

Markus Weber über „Das späte Leben“

Bernhard Schlink:

Das späte Leben

„Sein erster Gedanke war, dass er statt der Treppe den Aufzug hätte nehmen sollen, jetzt, wo ihm nicht mehr viel Zeit blieb.“ Martin kommt gerade vom Arzt, der ihm mitgeteilt hatte, dass ihm nur noch eine kurze Frist bis zum Tod bliebe. Er fragt sich, ob er sich „von jetzt an beeilen müsse“. Das ist die Ausgangssituation von Bernhard Schlinks neuem Roman.

Martin, emeritierter Jura-Professor, verheiratet mit einer deutlich jüngeren Frau und Vater eines sechsjährigen Sohnes, wird mit einer unheilbaren Krankheit konfrontiert und fragt sich, was ihm vom Leben und was danach von ihm selbst bleibt. Ausweichen geht nicht. Intensive Gespräche mit seiner Frau und der Alltag fordern ihn heraus. Auch der Sohn merkt, dass sein Vater „müdekrank“, zum Tode krank ist.

Ein langer Brief an seinen Sohn, den er ihm hinterlassen will, gerät hölzern und kopflastig, seltsam theoretisch und lebensfern. Die Erkenntnis, dass „nichts, was man schreibt, einen überdauert“, öffnet ihm Perspektiven: Bewusst die Zeit zu gestalten, den Sohn zum Kindergarten zu begleiten, ihm beim Zubettgehen vorzulesen, gemeinsam im Garten zu arbeiten. Sich am Schönen zu freuen und die gemeinsam verbleibende Zeit mit seiner Frau intensiv zu leben.

So ist die eigentliche Herausforderung das Loslassen: Vieles, was ihm zunächst wichtig erschien – alles noch in Ordnung zu bringen, seinem Sohn mehr mitgeben und hinterlassen – verliert sich schließlich. Der Roman führt vor Augen, was irgendwann jeden von uns trifft, und reizt zur Auseinandersetzung.

Bernhard Schlink: Das späte Leben. Roman, Diogenes 2023, ISBN 978-3257072716, 240 Seiten, 26,00 Euro.

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Lena Scholz über „Agnes geht“

Lena Scholz über „Agnes geht“

Katja Keweritsch:

Agnes geht

Ein All Age Roman, in dem jeder von uns sich wiederfinden kann!

Nach einem Streit mit ihrem Mann will Agnes nur noch weg und beschließt die Kinder, Tom, den Haushalt und ihr altes Leben einfach hinter sich zu lassen. Überstürzt verlässt sie Hamburg und geht immer an der Elbe entlang.

Das endlose Marschland mit kleinen Dörfern ist ein starker Kontrast zu ihrem Alltag und ihren Träumen, die sie als studierte Biologin aufs Eis gelegt hat, als ihre Kinder kamen. Erst mit ihrem Marsch an der Elbe merkt sie, dass es hier draußen ein Leben gibt und sie fasst den Entschluss bis nach Berlin zu wandern, um ihre Karriere dort wieder aufzunehmen.

Doch wie so oft kommt ihr das Leben zuvor. Auch Tom möchte Agnes und ihre Ehe nicht einfach aufgeben. Die Fragen der Kinder lassen Agnes nicht los und als kurz darauf ein Schicksalsschlag passiert, müssen sie sich entscheiden, wohin sie gehen möchten…

Ein erfrischender und leicht geschriebener Roman, der mit seiner Realitätsnähe jeden anspricht!

Katja Keweritsch: „Agnes geht“, Diana Taschenbuch, 400 Seiten, ISBN 9783453361485, Preis: 12,00 Euro.

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Markus Weber über „Überlebensglück“

Markus Weber über „Überlebensglück“

Oskar Negt:

Überlebensglück

Als ich jetzt vom Tod des bedeutenden Soziologen und Sozialphilosophen Oskar Negt hörte, fiel mir ein, dass ich vor einigen Jahren seine Kindheits- und Jugenderinnerungen geschenkt bekam. Negts theoretische Schriften habe ich nie gelesen, aber das Buch „Überlebensglück“ habe ich mit Begeisterung und Gewinn gelesen.

1934 geboren, musste er 1945 am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Ostpreußen fliehen – allein mit zwei Schwestern und getrennt von seinen Eltern: „Es war der 25. Januar 1945. An diesem Tag endete meine Kindheit. Die Fluchtwege hatten sich getrennt. Meine Eltern und vier meiner Geschwister sah ich erst zweieinhalb Jahre später wieder.“ Anschaulich beschreibt er seine Flucht über Königsberg und die Ostsee nach Dänemark, von wo er sich abermals aus den Internierungslagern auf den Weg nach Niedersachsen machte. Erst 1955 fühlte er sich angekommen, schließlich in Oldenburg.

Aber Negt schildert nicht nur anschaulich diese Kindheitserinnerungen. Er reflektiert auch ausführlich und in Auseinandersetzung mit Philosophen über deren Bedeutung und die soziologisch oder pädagogisch interessanten Erkenntnisse. So stand für mich im Zentrum des Buchs dieser Satz: „Irgendwann im Leben muss der Mensch einmal Glück erlebt haben.“ Und ein Kind muss erfahren haben, dass es willkommen ist in der Welt.

Die Überlegungen könnten heute, im Jahr 2024, nicht aktueller sein, wenn Negt etwa über Flüchtlinge, Fremde und die Bedeutung des Grundgesetzes schreibt. Über den Hass auf Fremde schreibt er, dieser lebte von der Täuschung, „dass die Gesellschaft gesund und krisenfrei gemacht sei, wenn der letzte Ausländer das Land verlassen hat.“ Stattdessen gilt: „Hätte man alle Ausländer aus Deutschland vertrieben, so würden nicht Frieden und Solidarität in die Gesellschaft einkehren, sondern es käme zu immer neuen, anderen Feinderklärungen.“

So kann das Buch gerade in diesen Tagen wichtige Anregungen geben und Negts Tod könnte ein Anlass sein, seine Spurensuche wieder zur Hand zu nehmen. Das Buch ist Ende letzten Jahres auch als Taschenbuchausgabe erschienen.

Oskar Negt: Überlebensglück. Eine autobiografische Spurensuche, Steidl-Verlag 2023, ISBN 978-3969992692, 320 Seiten, 16,00 Euro.

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Markus Weber über „Nach Deutschland“

Markus Weber über „Nach Deutschland“

Isabel Schayani:

Nach Deutschland

Städte und Gemeinden kommen bei der Aufnahme von Migranten teilweise an ihre Grenzen. Rechte Kräfte hetzen gegen Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund. Inmitten aufgeheizter Debatten tut ein Perspektivwechsel gut.

Die bekannte Fernsehjournalistin Isabel Schayani legt vor diesem Hintergrund ein sowohl wohltuend sachliches wie auch empathisches Buch vor. Dabei zeichnet sie fünf sehr unterschiedliche Wege von Menschen nach, deren Ziel Deutschland ist, die aber nicht alle dorthin gelangen. Zum Teil trifft sie die Menschen über lange Zeiträume immer wieder und kommt ihnen sehr nahe.

Da ist Safi aus Afghanistan, der es im Winter über die Balkanroute versucht und sich unterwegs in ein junges Mädchen verliebt. Ruhi wird im Iran wegen seiner Zugehörigkeit zur Religion der Bahá’í verfolgt und kommt vor deutschen Behörden in Erklärungsnöte. Omid versucht schließlich, da ihm der Weg nach Deutschland verwehrt ist, mit seiner kleinen Tochter im Schlauchboot über den Ärmelkanal zu kommen. Die neunjährige Melika sitzt mit ihrer Familie im Lager Moria fest. Und Olena ist dankbar, dass sie vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland fliehen konnte.

Isabel Schyani beschränkt sich nicht auf die Schilderung betroffen machender Lebensgeschichten. Sie verwebt die Geschichten und Gespräche mit soliden Hintergrundinformationen, z.B. über die Heimatländer und über Verfolgung und Armut, über den Krieg, über die kriminellen Schlepper ebenso wie über die unkoordinierte EU-Migrationspolitik und deutsche Behörden oder Leben im Auffanglager.

Ergänzt werden die Lebenswege mit Fragen an vier sehr unterschiedliche Expertinnen und Politiker – die Bandbreite reicht vom luxemburgischen Außenminister Asselborn, der sich an internationalem Recht orientiert, bis zum ungarischen Außenminister Szijjártó, der nationalen Interessen Vorrang vor den Rechten der Migranten gibt.

Das Buch hilft Stereotype und Vorurteile zu überwinden und ein differenziertes Bild zu gewinnen. Ich wünsche mir, dass es in viele Hände gelangt.

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Isabel Schayani: Nach Deutschland. Fünf Menschen. Fünf Wege. Ein Ziel, Verlag C.H. Beck 2023, ISBN 978-3406806315, 319 Seiten, 26,00 Euro.

Markus Weber über „Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht“

Markus Weber über „Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht“

Ronen Steinke:

Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht

Vor 60 Jahren, im Dezember 1963, begann der erste Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main, der nach Jahren des Schweigens den Holocaust wirksam in die deutsche Öffentlichkeit brachte. Initiiert worden war der Prozess vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer.

Ronen Steinke, Jurist und Redakteur der Süddeutschen Zeitung, hat mit diesem Buch eine „exzellente Biografie“ (Die Zeit) vorgelegt, die einen der bedeutendsten Juristen der Nachkriegszeit einer breiten Leserschaft bekannt macht. Gegen Widerstände einer Justiz, die noch weitgehend bestimmt war von alten Seilschaften und durch Juristen, die in der NS-Zeit Unrechtsurteile gefällt hatten, wusste er sich durchzusetzen – auch wenn er oft das Gefühl hatte außerhalb seines Büros in „Feindesland“ zu sein.

Schon in seiner ersten Stelle nach dem Krieg als Generalstaatsanwalt in Braunschweig trug er wesentlich dazu bei, den Widerstand gegen Hitler zu rehabilitieren und das Recht bzw. die Pflicht zum Widerstand gegen ein Unrechtsregime zu untermauern. In seiner Frankfurter Zeit war er, neben dem Auschwitz-Prozess, maßgeblich bei der Ergreifung von Adolf Eichmann durch den israelischen Geheimdienst beteiligt.

Selbstverständlich werden auch Kindheit und Jugend in einer jüdischen Familie und seine Bildungsjahre dargestellt sowie sein frühes Engagement als Richter, der sich für humane Reformen der Justiz einsetzte. Als die Nazis an die Macht kamen, konnte er nach einigen Monaten Gefangenschaft im Konzentrationslager nach Skandinavien emigrieren. Von dort aus kam er 1949 zurück nach Deutschland, um beim Aufbau der Demokratie mitzuwirken.

Der journalistische Stil von Ronen Steinke macht das Buch gut lesbar und lässt ein Stück Zeitgeschichte lebendig werden.

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Ronen Steinke: Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht. Mit einem Vorwort von Andreas Voßkuhle, Piper Verlag 2015, ISBN 978-3492307093, 352 Seiten, 14,00 Euro.

Zwei Veranstaltungen rund um Fritz Bauer

Zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ planen pax christi Nordharz  und der Harzburger Geschichtsverein Veranstaltungen zum Gedenken an Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Am Holocaust-Gedenktag selbst, also am Samstag, 27. Januar, lädt pax christi in das Haus der Kirche, Lutherstraße 7, in Bad Harzburg ein. „Ihr hättet Nein sagen müssen“ ist die Veranstaltung überschrieben, die mit Texten, Bildern und Musik an Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen erinnern soll. Die musikalische Gestaltung liegt in den Händen von Karsten Krüger (Orgel), Bernd Dallmann (Saxophon) und Klaus Wittig (Bass). Beginn der Veranstaltung ist am Samstag, 27. Januar, um 18 Uhr im Haus der Kirche.

„Demokratie braucht Demokraten – daher bin ich zurückgekehrt“. Dieses Zitat des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer (1903-1968) ist der Einladung zu einer gemeinsamen Veranstaltung des Harzburger Geschichtsvereins und der pax christi Basisgruppe Nordharz vorangestellt. Prof. Gerd Biegel wird am Dienstag, 30. Januar, um 17 Uhr im Bündheimer Schloss zu Person und Wirken Fritz Bauers sprechen.

Markus Weber über „Das Haus“

Markus Weber über „Das Haus“

Monika Maron:

Das Haus

Was tun, wenn das Erwerbsleben hinter einem liegt und sich neue Horizonte eröffnen? Wie soll es nun weitergehen, was liegt noch vor einem? Da eröffnen sich grundsätzliche Fragen nach dem Leben, nach neuen Möglichkeiten, aber auch nach Krankheit und Tod. Aber das sind ja auch Fragen, die schon in früheren Lebensphasen gelegentlich aufkommen.

Katharina hat ein Gutshaus hundert Kilometer nördlich von Berlin in einem kleinen Dorf geerbt. Sie plant eine Alters-Wohngemeinschaft – ein Besucher spricht spöttisch vom Gnadenhof. Ganz unterschiedliche Menschen treffen hier aufeinander, manche begeistert und voller Enthusiasmus, andere skeptisch und mit dem Ziel, bald wieder weg zu sein.

In der Gestaltung dieses neuen Lebensabschnitts erleben diese Menschen aus der Distanz, dennoch mitbangend die Ereignisse des Jahres 2020. In ihren Gesprächen nähern sie sich den großen und den alltäglichen Herausforderungen und einander. Sie tauschen sich aus, diskutieren und streiten über Persönliches wie Liebe, Glück und Schmerz, aber auch über die globalen Herausforderungen wie den Klimawandel, der durch einen Waldbrand in der Nähe des Dorfes, in dem sie leben, nahekommt.

Monika Maron erzählt die Geschichte gekonnt und mit großer Leichtigkeit, dennoch vermag sie es, den Themen eine Tiefe zu geben, die anregend ist.

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Monika Maron: Das Haus. Roman, Verlag Hoffmann und Campe 2023, ISBN 978-3455016420, 240 Seiten, 25,00 Euro.