Markus Weber über „Übertretung“

Markus Weber über „Übertretung“

Louise Kennedy:

Übertretung

Belfast 1975. Der Roman führt uns mitten hinein in den brutalen Bürgerkrieg in Nordirland. Terroranschläge, Polizeigewalt und -übergriffe sind an der Tagesordnung: „Ein Hund kommt für mich nicht in Frage“, sagt Gina, die Mutter der Hauptfigur des Romans. „Die Wahrscheinlichkeit, dass du eine Leiche findest, ist viel zu hoch.“

Und mitten in dieser Geschichte steckt die 24jährige Lehrerin Cushla Lavery, die an einer katholischen Grundschule arbeitet. Sie kümmert sich um ihre Klasse, besonders um Davy und seine Familie, dessen Vater bei einem Anschlag schwer verletzt wurde. Vor der Arbeit kümmert sie sich um ihre alkoholkranke Mutter, am Abend hilft sie ihrem Bruder in der Kneipe, die mitten im protestantischen Viertel liegt.

So begegnen wir zahlreichen unterschiedlichen Charakteren, die das Spannungsfeld der Gesellschaft ausmachen – beispielsweise dem Priester, der Gewaltfantasien vor den Schülern ausbreitet und von dem Cushla angewidert ist; ihrem Kollegen, der sie unterstützt; Protestanten, die die irische Sprache von ihr lernen wollen, sie aber auch argwöhnisch betrachten.

Gegen alle Vernunft beginnt Cushla ein leidenschaftliches Verhältnis mit dem protestantischen Anwalt Michael, der wesentlich älter und verheiratet ist. Ihre Liebe müssen die beiden verstecken – immer wieder ist Cushla hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe zu Michael und ihrer Eifersucht, ihn teilen zu müssen. Schon bald kommt die Vorahnung, dass diese Geschichte böse enden wird.

Der Roman zeigt auf beeindruckende Weise den Alltag inmitten der Gewalt und die Suche der Menschen nach einem Stück Normalität in dieser erschreckenden Situation. Die zwischenmenschlichen Hoffnungszeichen sind klein, aber es gibt sie.

Louise Kennedy: „Übertretung“, Roman, Steidl Verlag 2023, ISBN 978-3969992593, 306 Seiten, 25,00 Euro.

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Markus Weber über „Das späte Leben“

Markus Weber über „Das späte Leben“

Bernhard Schlink:

Das späte Leben

„Sein erster Gedanke war, dass er statt der Treppe den Aufzug hätte nehmen sollen, jetzt, wo ihm nicht mehr viel Zeit blieb.“ Martin kommt gerade vom Arzt, der ihm mitgeteilt hatte, dass ihm nur noch eine kurze Frist bis zum Tod bliebe. Er fragt sich, ob er sich „von jetzt an beeilen müsse“. Das ist die Ausgangssituation von Bernhard Schlinks neuem Roman.

Martin, emeritierter Jura-Professor, verheiratet mit einer deutlich jüngeren Frau und Vater eines sechsjährigen Sohnes, wird mit einer unheilbaren Krankheit konfrontiert und fragt sich, was ihm vom Leben und was danach von ihm selbst bleibt. Ausweichen geht nicht. Intensive Gespräche mit seiner Frau und der Alltag fordern ihn heraus. Auch der Sohn merkt, dass sein Vater „müdekrank“, zum Tode krank ist.

Ein langer Brief an seinen Sohn, den er ihm hinterlassen will, gerät hölzern und kopflastig, seltsam theoretisch und lebensfern. Die Erkenntnis, dass „nichts, was man schreibt, einen überdauert“, öffnet ihm Perspektiven: Bewusst die Zeit zu gestalten, den Sohn zum Kindergarten zu begleiten, ihm beim Zubettgehen vorzulesen, gemeinsam im Garten zu arbeiten. Sich am Schönen zu freuen und die gemeinsam verbleibende Zeit mit seiner Frau intensiv zu leben.

So ist die eigentliche Herausforderung das Loslassen: Vieles, was ihm zunächst wichtig erschien – alles noch in Ordnung zu bringen, seinem Sohn mehr mitgeben und hinterlassen – verliert sich schließlich. Der Roman führt vor Augen, was irgendwann jeden von uns trifft, und reizt zur Auseinandersetzung.

Bernhard Schlink: Das späte Leben. Roman, Diogenes 2023, ISBN 978-3257072716, 240 Seiten, 26,00 Euro.

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Markus Weber über „Überlebensglück“

Markus Weber über „Überlebensglück“

Oskar Negt:

Überlebensglück

Als ich jetzt vom Tod des bedeutenden Soziologen und Sozialphilosophen Oskar Negt hörte, fiel mir ein, dass ich vor einigen Jahren seine Kindheits- und Jugenderinnerungen geschenkt bekam. Negts theoretische Schriften habe ich nie gelesen, aber das Buch „Überlebensglück“ habe ich mit Begeisterung und Gewinn gelesen.

1934 geboren, musste er 1945 am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Ostpreußen fliehen – allein mit zwei Schwestern und getrennt von seinen Eltern: „Es war der 25. Januar 1945. An diesem Tag endete meine Kindheit. Die Fluchtwege hatten sich getrennt. Meine Eltern und vier meiner Geschwister sah ich erst zweieinhalb Jahre später wieder.“ Anschaulich beschreibt er seine Flucht über Königsberg und die Ostsee nach Dänemark, von wo er sich abermals aus den Internierungslagern auf den Weg nach Niedersachsen machte. Erst 1955 fühlte er sich angekommen, schließlich in Oldenburg.

Aber Negt schildert nicht nur anschaulich diese Kindheitserinnerungen. Er reflektiert auch ausführlich und in Auseinandersetzung mit Philosophen über deren Bedeutung und die soziologisch oder pädagogisch interessanten Erkenntnisse. So stand für mich im Zentrum des Buchs dieser Satz: „Irgendwann im Leben muss der Mensch einmal Glück erlebt haben.“ Und ein Kind muss erfahren haben, dass es willkommen ist in der Welt.

Die Überlegungen könnten heute, im Jahr 2024, nicht aktueller sein, wenn Negt etwa über Flüchtlinge, Fremde und die Bedeutung des Grundgesetzes schreibt. Über den Hass auf Fremde schreibt er, dieser lebte von der Täuschung, „dass die Gesellschaft gesund und krisenfrei gemacht sei, wenn der letzte Ausländer das Land verlassen hat.“ Stattdessen gilt: „Hätte man alle Ausländer aus Deutschland vertrieben, so würden nicht Frieden und Solidarität in die Gesellschaft einkehren, sondern es käme zu immer neuen, anderen Feinderklärungen.“

So kann das Buch gerade in diesen Tagen wichtige Anregungen geben und Negts Tod könnte ein Anlass sein, seine Spurensuche wieder zur Hand zu nehmen. Das Buch ist Ende letzten Jahres auch als Taschenbuchausgabe erschienen.

Oskar Negt: Überlebensglück. Eine autobiografische Spurensuche, Steidl-Verlag 2023, ISBN 978-3969992692, 320 Seiten, 16,00 Euro.

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Markus Weber über „Nach Deutschland“

Markus Weber über „Nach Deutschland“

Isabel Schayani:

Nach Deutschland

Städte und Gemeinden kommen bei der Aufnahme von Migranten teilweise an ihre Grenzen. Rechte Kräfte hetzen gegen Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund. Inmitten aufgeheizter Debatten tut ein Perspektivwechsel gut.

Die bekannte Fernsehjournalistin Isabel Schayani legt vor diesem Hintergrund ein sowohl wohltuend sachliches wie auch empathisches Buch vor. Dabei zeichnet sie fünf sehr unterschiedliche Wege von Menschen nach, deren Ziel Deutschland ist, die aber nicht alle dorthin gelangen. Zum Teil trifft sie die Menschen über lange Zeiträume immer wieder und kommt ihnen sehr nahe.

Da ist Safi aus Afghanistan, der es im Winter über die Balkanroute versucht und sich unterwegs in ein junges Mädchen verliebt. Ruhi wird im Iran wegen seiner Zugehörigkeit zur Religion der Bahá’í verfolgt und kommt vor deutschen Behörden in Erklärungsnöte. Omid versucht schließlich, da ihm der Weg nach Deutschland verwehrt ist, mit seiner kleinen Tochter im Schlauchboot über den Ärmelkanal zu kommen. Die neunjährige Melika sitzt mit ihrer Familie im Lager Moria fest. Und Olena ist dankbar, dass sie vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland fliehen konnte.

Isabel Schyani beschränkt sich nicht auf die Schilderung betroffen machender Lebensgeschichten. Sie verwebt die Geschichten und Gespräche mit soliden Hintergrundinformationen, z.B. über die Heimatländer und über Verfolgung und Armut, über den Krieg, über die kriminellen Schlepper ebenso wie über die unkoordinierte EU-Migrationspolitik und deutsche Behörden oder Leben im Auffanglager.

Ergänzt werden die Lebenswege mit Fragen an vier sehr unterschiedliche Expertinnen und Politiker – die Bandbreite reicht vom luxemburgischen Außenminister Asselborn, der sich an internationalem Recht orientiert, bis zum ungarischen Außenminister Szijjártó, der nationalen Interessen Vorrang vor den Rechten der Migranten gibt.

Das Buch hilft Stereotype und Vorurteile zu überwinden und ein differenziertes Bild zu gewinnen. Ich wünsche mir, dass es in viele Hände gelangt.

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Isabel Schayani: Nach Deutschland. Fünf Menschen. Fünf Wege. Ein Ziel, Verlag C.H. Beck 2023, ISBN 978-3406806315, 319 Seiten, 26,00 Euro.

Markus Weber über „Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht“

Markus Weber über „Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht“

Ronen Steinke:

Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht

Vor 60 Jahren, im Dezember 1963, begann der erste Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main, der nach Jahren des Schweigens den Holocaust wirksam in die deutsche Öffentlichkeit brachte. Initiiert worden war der Prozess vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer.

Ronen Steinke, Jurist und Redakteur der Süddeutschen Zeitung, hat mit diesem Buch eine „exzellente Biografie“ (Die Zeit) vorgelegt, die einen der bedeutendsten Juristen der Nachkriegszeit einer breiten Leserschaft bekannt macht. Gegen Widerstände einer Justiz, die noch weitgehend bestimmt war von alten Seilschaften und durch Juristen, die in der NS-Zeit Unrechtsurteile gefällt hatten, wusste er sich durchzusetzen – auch wenn er oft das Gefühl hatte außerhalb seines Büros in „Feindesland“ zu sein.

Schon in seiner ersten Stelle nach dem Krieg als Generalstaatsanwalt in Braunschweig trug er wesentlich dazu bei, den Widerstand gegen Hitler zu rehabilitieren und das Recht bzw. die Pflicht zum Widerstand gegen ein Unrechtsregime zu untermauern. In seiner Frankfurter Zeit war er, neben dem Auschwitz-Prozess, maßgeblich bei der Ergreifung von Adolf Eichmann durch den israelischen Geheimdienst beteiligt.

Selbstverständlich werden auch Kindheit und Jugend in einer jüdischen Familie und seine Bildungsjahre dargestellt sowie sein frühes Engagement als Richter, der sich für humane Reformen der Justiz einsetzte. Als die Nazis an die Macht kamen, konnte er nach einigen Monaten Gefangenschaft im Konzentrationslager nach Skandinavien emigrieren. Von dort aus kam er 1949 zurück nach Deutschland, um beim Aufbau der Demokratie mitzuwirken.

Der journalistische Stil von Ronen Steinke macht das Buch gut lesbar und lässt ein Stück Zeitgeschichte lebendig werden.

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Ronen Steinke: Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht. Mit einem Vorwort von Andreas Voßkuhle, Piper Verlag 2015, ISBN 978-3492307093, 352 Seiten, 14,00 Euro.

Zwei Veranstaltungen rund um Fritz Bauer

Zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ planen pax christi Nordharz  und der Harzburger Geschichtsverein Veranstaltungen zum Gedenken an Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Am Holocaust-Gedenktag selbst, also am Samstag, 27. Januar, lädt pax christi in das Haus der Kirche, Lutherstraße 7, in Bad Harzburg ein. „Ihr hättet Nein sagen müssen“ ist die Veranstaltung überschrieben, die mit Texten, Bildern und Musik an Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen erinnern soll. Die musikalische Gestaltung liegt in den Händen von Karsten Krüger (Orgel), Bernd Dallmann (Saxophon) und Klaus Wittig (Bass). Beginn der Veranstaltung ist am Samstag, 27. Januar, um 18 Uhr im Haus der Kirche.

„Demokratie braucht Demokraten – daher bin ich zurückgekehrt“. Dieses Zitat des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer (1903-1968) ist der Einladung zu einer gemeinsamen Veranstaltung des Harzburger Geschichtsvereins und der pax christi Basisgruppe Nordharz vorangestellt. Prof. Gerd Biegel wird am Dienstag, 30. Januar, um 17 Uhr im Bündheimer Schloss zu Person und Wirken Fritz Bauers sprechen.

Markus Weber über „Das Haus“

Markus Weber über „Das Haus“

Monika Maron:

Das Haus

Was tun, wenn das Erwerbsleben hinter einem liegt und sich neue Horizonte eröffnen? Wie soll es nun weitergehen, was liegt noch vor einem? Da eröffnen sich grundsätzliche Fragen nach dem Leben, nach neuen Möglichkeiten, aber auch nach Krankheit und Tod. Aber das sind ja auch Fragen, die schon in früheren Lebensphasen gelegentlich aufkommen.

Katharina hat ein Gutshaus hundert Kilometer nördlich von Berlin in einem kleinen Dorf geerbt. Sie plant eine Alters-Wohngemeinschaft – ein Besucher spricht spöttisch vom Gnadenhof. Ganz unterschiedliche Menschen treffen hier aufeinander, manche begeistert und voller Enthusiasmus, andere skeptisch und mit dem Ziel, bald wieder weg zu sein.

In der Gestaltung dieses neuen Lebensabschnitts erleben diese Menschen aus der Distanz, dennoch mitbangend die Ereignisse des Jahres 2020. In ihren Gesprächen nähern sie sich den großen und den alltäglichen Herausforderungen und einander. Sie tauschen sich aus, diskutieren und streiten über Persönliches wie Liebe, Glück und Schmerz, aber auch über die globalen Herausforderungen wie den Klimawandel, der durch einen Waldbrand in der Nähe des Dorfes, in dem sie leben, nahekommt.

Monika Maron erzählt die Geschichte gekonnt und mit großer Leichtigkeit, dennoch vermag sie es, den Themen eine Tiefe zu geben, die anregend ist.

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Monika Maron: Das Haus. Roman, Verlag Hoffmann und Campe 2023, ISBN 978-3455016420, 240 Seiten, 25,00 Euro.

Markus Weber über „Zwischen Welten“

Markus Weber über „Zwischen Welten“

Juli Zeh / Simon Urban:

Zwischen Welten

Schon in ihren vorhergehenden Romanen hat Julie Zeh hintersinnige Titel gefunden, was ihr auch mit dem neuen, Anfang 2023 erschienenen Roman „Zwischen Welten“ gelungen ist, den sie gemeinsam mit Simon Urban verfasst hat. Zwei Autoren (oder müsste ich Autor*innen schreiben?), das passt zur Form des Romans, der an die klassische Form des Briefromans anknüpft, aber sich heutiger Medien bedient.

Eine schwierige Ausgangsposition: Stefan und Theresa hatten zwanzig Jahre zuvor in Münster studiert und in einer Wohngemeinschaft gelebt, nach langen Jahren ohne Kontakt wurde ein zufälliges Treffen zum Desaster, doch nun nehmen sie erneut freundschaftlich Kontakt auf, ohne sich gegenseitig zu schonen. E-Mails und WhatsApp-Nachrichten gehen hin und her.

Der Ton wird immer wieder schärfer, wie häufig in den „sozialen“ Medien“. Völlig unterschiedliche Lebenswelten prallen aufeinander. Da ist der erfolgreiche Journalist in Hamburg, der sich an vorderster Front des Fortschritts wähnt, auf der einen Seite und die Chefin eines landwirtschaftlichen Betriebes in Brandenburg, um dessen Überleben sie kämpft, auf der anderen Seite.

Beide ringen in ihren Nachrichten um gegenseitiges Verständnis. In einigen Kritiken zum Roman wurde moniert, die Protagonisten seien nur Pappkameraden ohne Leben. Ich habe das nicht so erlebt. Ich habe mich angesichts der Auseinandersetzungen der beiden immer wieder gefragt, wie das Gespräch und die Beziehung weitergehen könnte – und ob es überhaupt weitergehen kann angesichts der Themen, um die gestritten wird: Klimakatastrophe, fake news, Verschwörungserzählungen, Diffamierung von Gegnern – über den Zustand der Welt insgesamt. Um all das also, worum es auch in den gesellschaftlichen Debatten geht, bei denen die unterschiedlichen Meinungen sich verfeinden und abkapseln, statt in Dialog miteinander zu treten.

Dagegen schreibt Theresa an: „Ich finde es großartig, dass wir gelernt haben, über empfindliche Themen zu sprechen, ohne uns digital anzuschreien.“ Und so hofft man bis zum Schluss, dass Stefan und Theresa dieser Dialog gelingt. Und natürlich, dass er uns allen gelingt.

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Juli Zeh / Simon Urban: „Zwischen Welten“, Luchterhand 2023, 448 Seiten, ISBN 978-3630877419, Preis 24,00 Euro.

Markus Weber über „Asterix – Die weisse Iris“

Markus Weber über „Asterix – Die weisse Iris“

Fabcaro/Conrad:

Die weisse Iris

(Asterix Band 40)

Einen Literaturtipp für ein Comic-Heft? Selbstverständlich, denn inzwischen gehören die Asterix-Hefte, seit sie 1959 in Frankreich zuerst erschienen sind, zum festen Kanon. In vielen Sprachen sind sie erschienen. Sogar im Lateinunterricht werden sie gelesen. In diesem Jahr in der 40. Band erschienen. Und auch auf den Feuilleton-Seiten der ZEIT oder der Süddeutschen Zeitung finden sich Besprechungen.

In meiner Jugendzeit gehörten die jeweils neuen Hefte zum Pflichtprogramm. Manche Sprüche aus den Heften gehörten zum guten Ton unserer Unterhaltungen. Inzwischen war meine Begeisterung ein wenig erlahmt. Nach verschiedenen positiven Hinweisen habe ich mir den neuesten Band gekauft und mal wieder mit Freude gelesen.

Wie immer bestehen die alten Konstellationen zwischen Römern und dem widerständigen gallischen Dorf, das sich der römischen Herrschaft nicht beugen will. Doch Visusversus, der Leibarzt von Cäsar, bringt auf beiden Seiten einiges durcheinander. Positives Denken, Achtsamkeit und gesunde Ernährung werden als Waffen eingesetzt, um die Römer zu stärken und die Gallier zu besiegen. Die neue Strategie scheint aufzugehen …

Vielleicht bleibt nach der Lektüre der ein oder andere Spruch, um ihn bei passender Gelegenheit einzusetzen. Wie wäre es mit „Die Blüte einer einzigen Iris erleuchtet den Wald“ – oder „Kanalisiere deine Emotionen und verwandle sie in eine konstruktive Kraft“?

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Fabcaro (Zeichnungen: Diedier Conrad): Die weisse Iris (Asterix Band 40), Egmont Verlag 2023, 48 Seiten, ISBN 978-3770424405, Preis: 13,50 Euro.

Markus Weber über „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“

Markus Weber über „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“

Rafik Schami:

Wenn du erzählst, erblüht die Wüste

„Erzählen ist Leben, und Schweigen gleicht dem Tod“, schreibt Rafik Schami am Ende seines neuen Buchs. So wunderbar wie der Autor erzählt, glaubt man ihm das gerne – ebenso wie man ihm glaubt, dass Geschichten heilen helfen oder die Wüste erblühen lassen. Der in Damaskus geborene Autor, der seit mehr als 50 Jahren in Deutschland lebt, hat alte orientalische Geschichten neu für westliche Leser*innen erzählt und im Roman zu einem stimmigen Ganzen gefügt.

Der Kaffeehauserzähler Karam musste vor der Verfolgung aus seiner Heimat fliehen, weil er den dortigen Herrscher kritisiert hatte, und kommt in das Land Sitt Hudud, wo der gerechte König Salih regiert. Hier können alle Menschen frei leben und reden. Doch ist Jasmin, die Tochter des Königs, krank. Kein Arzt kann helfen. Karam spürt, dass ihr Geschichten helfen können, wieder ihre Sprache und zu sich selbst zu finden.

So organisiert er mit Zustimmung des Königs zehn Abende im Schloss, an denen das Volk zusammenkommt und Geschichten hört und erzählt. Es kommen ganz unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Schichten zu Wort: Männer und Frauen, Muslime, Christen und Juden erzählen frei und gleichberechtigt ihre Geschichten. Jeder Abend steht unter einem anderen Motto: Von Gaunern, Lügnern und deren Widersachern – Von Mut und Feigheit – Von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit – Von der Liebe und der blühenden Wüste …

Ungerechte Herrscher und Gewalt werden kritisiert, die klugen und menschenfreundlichen Kräfte können letztlich siegen. Denn: „Die List, Tochter der Vernunft, besiegt die Gewalt, Tochter der Dummheit“. So spricht Rafik Schami mit seinen orientalischen Geschichten mitten hinein in unsere Zeit.

Rafik Schami: „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“, Hanser-Verlag 2023, 476 Seiten, ISBN 9783446277465, Preis: 26,00 Euro

Markus Weber über „Gewässer im Ziplock“

Markus Weber über „Gewässer im Ziplock“

Dana Vowinckel:

Gewässer im Ziplock

Dana Vowinckel, 1996 geboren, ist eine wunderbare Erzählerin. Ihr erster Roman „Gewässer im Ziplock“ lässt uns an der Geschichte des Erwachsenwerdens der 15-jährigen Margarita teilhaben. Die Sommerferien verbringt sie in Chicago bei den Eltern ihrer amerikanischen Mutter, die sie und ihren Vater früh verlassen hat und die sie nun nach Jerusalem einlädt, um gemeinsam Israel zu bereisen, während ihr Vater in Berlin geblieben ist.

Die Erzählung wechselt zwischen den Perspektiven Margaritas, die in Berlin ein jüdisches Gymnasium besucht, und ihres Vaters Avi, der als Kantor in einer jüdischen Gemeinde arbeitet. Es ist eine Geschichte über die Suche der 15-jährigen nach ihrer eigenen Identität, der Entdeckung ihrer Sexualität, der Enttäuschungen und des Liebeskummers.

Vor allem aber ist es eine Geschichte der Zerrissenheit zwischen den Elternteilen, Ländern, Kulturen, Sprachen und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit innerhalb der verschiedenen Welten. Am Beispiel von Avi, der in seinem Gesang gläubig ist, ohne frömmlerisch zu sein, wird auch der kulturelle und religiöse Reichtum deutlich – an Margarita ist es eine Einladung ohne Zwang.

Nur am Rande wird auch deutlich, wie zwiespältig die deutsche Mehrheitsgesellschaft jüdischen Menschen und Israel gegenübersteht. Die ungewohnte Erzählperspektive stellt unsere Sicht – ohne zu moralisieren – infrage. Letztlich ist es auch eine Einladung zu neuen Sichtweisen ohne Voyeurismus.

Man „muss wirklich nicht neidisch auf die großen amerikanischen Familienromane schielen, wenn es eine solche Erzählerin in deutscher Sprache gibt“, schreibt Marie Schmitt zurecht in ihrer Rezension in der Süddeutschen Zeitung.

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Dana Vowinckel: „Gewässer im Ziplock“, suhrkamp nova 2023, 362 Seiten, ISBN 978-3518473603, Preis: 23,00 Euro.