Erinnerungen von Inge Graus

Erinnerungen von Inge Graus
Inge Graus während des GZ-Interviews zum Start der Serie über ihre Lebenserinnerungen. Foto: Goslarsche Zeitung / Frank Heine

Exklusiv in der BÜCHER-HEIMAT erhältlich

Im Frühjahr 2025 hatte die Goslarsche Zeitung die Erinnerungen der ehemaligen Bad Harzburger Berufsschullehrerin Inge Graus an die NS-Zeit in einer mehrteiligen Serie veröffentlicht. Es war ihr Wunsch, diese Erinnerungen in einem eigenen Büchlein für Freundinnen und Freunde herauszubringen. Kurz vor ihrem Tod im Juli 2025 konnte dieser Wunsch erfüllt werden; Inge Graus hat das Büchlein noch freudig in Händen gehalten.

Über ihren Freundeskreis hinaus gab es Interesse an den Erinnerungen. Nun hat die Bad Harzburger BÜCHER-HEIMAT diese Erinnerungen noch einmal in kleiner Auflage nachdrucken lassen. Inge Graus schildert in diesem Büchlein, das mit vielen Bildern versehen ist, wie sie als fünfjähriges Mädchen den Beginn der NS-Herrschaft in Lutter am Barenberge und in Othfresen erlebte: die Misshandlungen von Gegnern der Nazis, die beruflichen Schwierigkeiten ihres Vaters, der als Hitler-Gegner bekannt war, die Erlebnisse beim BDM oder das Alltagsleben unter dem NS-Regime.

Das Büchlein wird abgerundet durch ein Porträt der Autorin, das GZ-Redakteur Frank Heine zum Start der mehrteiligen Serie verfasst hat.

Inge Graus: Meine Jugend im Schatten des Nationalsozialismus. Wie ich den Nationalsozialismus kennenlernte, erlebte und überstanden habe, 48 Seiten, 5 Euro, erhältlich in der BücherHeimat, Herzog-Wilhelm-Straße 64c, Bad Harzburg

Markus Weber über „Erinnern heißt handeln“

Markus Weber über „Erinnern heißt handeln“

Ruth Weiss: Erinnern heißt handeln

Mit 100 Jahren legte Ruth Weiss in diesem Jahr ihr letztes Buch, das sie gemeinsam mit dem Lektor und Übersetzer Lutz Kliche verfasst hat, vor. 1924 wurde sie in Fürth geboren, mit 101 Jahren starb sie dann im September 2025 in Ålborg. So ist es das letzte von zahlreichen Büchern, so etwas wie ein Vermächtnis.

Darin teilt sie ihre Erfahrung: „Zivilcourage – Mut, dem Unrecht zu widerstehen – kann man lernen. Auch ich selbst bin ja nicht mutig auf die Welt gekommen.“ Und sie möchte andere ermutigen, einzustehen für „Respekt vor jedem und jeder anderen, Verständnis und Toleranz“.

Das Buch ist keine Autobiografie im klassischen Sinn. In einigen Kapiteln schildert sie ihre sehr persönlichen Erlebnisse, etwa das Aufwachsen als jüdisches Kind in Fürth, das 1933 mit der NS-Herrschaft und dem Antisemitismus konfrontiert wird. Oder sie berichtet, wie sie nach der Auswanderung nach Südafrika seit 1936 lernen musste, sich als Kind neu zu orientieren. Und wieder war sie mit einem System der Ungleichheit konfrontiert.

Andere Kapitel gleichen einem Sachbuch, wenn sie das System der Apartheid in Südafrika beschreibt. Aber auch in diesen Kapiteln macht sie die Darstellung durch eigene Erlebnisse anschaulich. Und sie zeigt ihre Haltung gegen jegliche Ungleichbehandlung, was ihr in Südafrika später ein Einreiseverbot einbrachte.

Sie führt die Leser*innen in die Länder, in denen sie gelebt und gearbeitet hat: Israel, Sambia, Simbabwe, Angola, England. Und sie lernte viele Politiker kennen, die sich für die Befreiung Afrikas von europäischer Kolonialherrschaft einsetzten. So arbeitete sie als engagierte Journalistin, die sich immer verpflichtet fühlte, „mit allen Seiten zu sprechen, um mir ein möglichst umfassendes und objektives Urteil zu bilden, um möglichst ‚faktenbasiert‘ und objektiv berichten zu können“. Angesichts von fake-news in heutigen Zeiten ein beeindruckendes Ethos!

Ihr Verhältnis zu Deutschland blieb gebrochen, trotz zahlreicher Aufenthalte, Gesprächen mit Schüler*innen und Bewunderung für die Erinnerungskultur. Doch es gab auch verstörende Erfahrungen mit der Bürokratie, als sie in Deutschland für die Deutsche Welle arbeitete und der Beamte abweisend auf ihre Fragen reagierte. Erst als anhand ihrer Papiere die Flucht aus Deutschland im NS deutlich wurde, stammelte er, er sei auch Widerstandskämpfer gewesen und habe ihr nicht „angesehen“, dass sie Jüdin sei. Und auch bei der Wohnungssuche stieß sie auf feste antisemitische Denkmuster.

Bei aller Rückschau auf vergangene Zeiten ist das Buch auch eine Einmischung in die heutige Zeit: für ein friedliches Miteinander und den Abbau von Vorurteilen, für ein Leben in Freiheit und Demokratie, für Verständnis und Toleranz, die aber Grenzen hat, wo Ungerechtigkeit herrscht. So schreibt sie zum Schluss: „Die Demokratie ist immer wieder der Gefahr ausgesetzt, von ihren Feinden ausgehöhlt zu werden. Das sollten wir niemals zulassen.“

Ruth Weiss: Erinnern heißt handeln. Mein Jahrhundertleben für Demokratie und Menschlichkeit, Herder 2025, 176 Seiten, ISBN  978-3451036217, 20,00 Euro

Markus Weber über „Unerwünscht“

Markus Weber über „Unerwünscht“

Stefanie Schüler-Springorum: Unerwünscht

Immer noch geistert in vielen Köpfen der Begriff „Stunde Null“ herum, als sei mit dem Kriegsende gleich alles neu geworden und auf die Erfolgsgeschichte der westdeutschen Demokratie zugelaufen. Dass das nicht der Fall ist, ist vielfach belegt. Die Historikerin Schüler-Springorum, Direktorin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, hat nun aus einer besonderen Perspektive die Nachkriegsgeschichte beleuchtet.

Sie widmet sich der Frage, wie die deutsche Nachkriegsgesellschaft mit den millionenfachen Opfern umgegangen ist, wie es jüdischen Überlebenden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, ehemaligen Zwangsarbeitern, Homosexuellen und Opfern von Zwangssterilisation ergangen ist. Das Urteil ist auf der Grundlage vieler anschaulicher Quellen erschreckend. Es zeigt sich, dass Hass und Vorurteile im Denken der Menschen nach wie vor tief verwurzelt waren.

Während viele NS-Täter – bis auf Ausnahmen – straffrei ausgingen, recht schnell wieder Fuß fassen konnten und in ihre alten Positionen zurückkehrten – euphemistisch als „Elitenkontinuität“ bezeichnet – blieben die meisten Opfer entwurzelt. Mit großen Schwierigkeiten mussten sie um die Anerkennung als Opfer der Verfolgung ebenso kämpfen wie um die Zahlung von Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen angesichts zerstörter Existenzen.

Besonders schlecht erging es den Zwangsarbeitern, die als Displaced People nicht zurück in ihre osteuropäische Heimat gehen konnten, weil ihnen dort auch Verfolgung drohte, und sie in Deutschland nach wie vor als „Fremde“ ausgeschlossen blieben. Die 400.000 zwangssterilisierten Männer und Frauen hatten keinen Anspruch auf Entschädigung, galten doch die Zwangssterilisationen nicht als spezifisches NS-Unrecht. Homosexuelle wurden nach wie vor auf der Grundlage des von den Nazis verschärften § 175 im Strafgesetzbuch Ziele polizeilicher Verfolgung. Der Widerstand der Kommunisten gegen die NS-Herrschaft wurde angesichts des wachsenden Ost-West-Konflikts disqualifiziert. Und die Massendeportationen von Sinti und Roma wurden nicht als rassistische Verfolgung angesehen, sondern als sicherheitspolitische und militärische Maßnahme, wurden sie doch als Spione verdächtigt und weiterhin kriminalisiert.

Von dem aus dem Exil zurückgekehrten Fritz Bauer, der immerhin in Braunschweig, dann in Frankfurt als Staatsanwalt tätig war, ist ein berühmter Satz überliefert: „Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich feindliches Ausland.“ Welche Erinnerungen leben da wieder auf, war er doch vor der Verfolgung als Jude aus Deutschland geflohen?

Das Buch mutet den Leser*innen einiges zu, aber es bietet einen erhellenden Blick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte. Neben der – sicher auch berechtigten – Erzählung einer Erfolgsgeschichte, sollte dieser Blick auf die Opfer nicht vergessen werden. Und als Teil der deutschen Geschichte wahrgenommen werden.

Stefanie Schüler-Springorum: Unerwünscht. Die westdeutsche Demokratie und die Verfolgten des NS-Regimes, S. Fischer, 256 Seiten, ISBN 978-3103976649, 25,00 Euro.

Markus Weber über „Die verunsicherte Nation“

Markus Weber über „Die verunsicherte Nation“

Matthias von Hellfeld: Die verunsicherte Nation

Der Historiker und Journalist Matthias von Hellfeld, u.a. Redakteur des Formats „Eine Stunde History“ bei Deutschlandfunk Nova, hat aus aktuellem Anlass ein Buch zur deutschen Geschichte vorgelegt. Vielfach wird Geschichte politisch vereinnahmt, um damit nationalistisches und fremdenfeindliches Gedankengut zu verbreiten. Dagegen stellt von Hellfeld ein von Fakten gesättigtes und gut lesbares Buch.

In vier Kapiteln, die aus unterschiedlichen thematischen Perspektiven die deutsche Geschichte durchleuchten, arbeitet der Autor gegen die Verfälschung der Nationalgeschichte von der Römerzeit bis heute an. Dabei stehen die Frage der Migration, die Kleinstaaterei, das Streben nach nationaler Einheit auf demokratischer Basis sowie das Streben nach europäischer Einigkeit im Blickpunkt.

Bei den Durchgängen durch die Geschichte wird ersichtlich, dass weder „Hermann der Cherusker“ noch Karl der Große oder Kaiser Otto Begründer „Deutschlands“ waren oder sein wollten. Im engeren Sinne lässt sich von einem Nationalstaat ohnehin erst mit der Gründung des „von oben“ unter preußischer Vorherrschaft gegründeten Kaiserreiches 1870/71 sprechen. Und dieses war zwar ein wichtiger Schritt zu unserem heutigen Staat, aber doch auch gekennzeichnet durch Ausgrenzung – etwa gegen Polen, Katholiken oder Sozialdemokraten – und imperialistische Politik, die einem friedlichen Zusammenleben der Völker nicht zuträglich war.

Aus der – durchaus begründeten – Vorgehensweise ergeben sich inhaltliche Überschneidungen und Wiederholungen, die ich beim Lesen teilweise als störend empfunden habe. Ein Durchgang weniger hätte sicher auch gereicht.

In einem Schlusskapitel geht der Autor noch einmal auf die fatale Mythenbildung im Umgang mit der Geschichte ein. Er ermutigt dazu, die Vielfalt Deutschlands, die sich aus regionalen Unterschieden, aber auch durch Anwesenheit anderer Kulturen, Lebensgewohnheiten und Religionen ergeben hat, als Vorteil und Stärke zu sehen: „Deutschland ist schon immer von fremden Einflüssen geprägt worden, und es spricht vieles dafür, dass das auch in Zukunft so sein wird.“ Die Propaganda dagegen ist für ihn zutiefst unhistorisch und unpatriotisch, was er nachvollziehbar darlegt.

Trotz der Einwände: Das Buch kann ich gerne empfehlen; es kommt zur rechten Zeit und kann angesichts vielfältiger Verunsicherungen im Umgang mit der Geschichte zu einer Selbstvergewisserung im Sinne der Demokratie beitragen. So ist es ein im besten Sinne aufklärerisches Geschichtsbuch!

Matthias von Hellfeld: „Die verunsicherte Nation. Vielfalt und Migration – eine andere Geschichte Deutschlands“, wbg Theiss 2025, 240 Seiten, ISBN 978-3534610594, 22,00 Euro.

Markus Weber über „Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken“

Markus Weber über „Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken“

Sarah Lorenz: Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken

Das Buch bekam ich geschenkt, weil ich ein bekennender Fan der Gedichte von Mascha Kaléko bin – egal ob gedruckt, gelesen oder vertont und gesungen von Dota. In einem fiktiven Brief an die Dichterin schreibt Sarah Lorenz die Lebensgeschichte von Elisa in Ich-Form auf. Jedes Kapitel beginnt mit einem Gedicht von Mascha Kaléko, mit dem die Erfahrungen von Elisa verbunden werden.

Ehrlich gesagt war ich zu Beginn skeptisch, ob diese Frauengeschichte auch ein Buch für mich als Mann im fortgeschrittenen Alter sein könnte. Ich bin froh, dass ich weitergelesen habe, denn schon bald traf ich auf wunderbare und nachdenkliche Sätze, z.B.: „Trostlos ist der ultimative Superlativ von traurig“. Und Trost kann Elisa reichlich gebrauchen, die nach wenigen glücklichen Jahren von ihrer alleinerziehenden, sehr jungen und überforderten Mutter in Fürsorgeeinrichtungen abgegeben wurde.

So wird das gesamte spätere Leben von Elisa zur Suche und Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe, Sinnbild dafür ist das kleine reetgedeckte Haus ihrer Kindheit, das ihr Heimat war.

Stattdessen flieht sie aus dem kalten Erziehungsheim in eine vermeintliche Freiheit von Drogen und Punkerleben. Statt Erfüllung ihrer Sehnsucht erfährt sie schon bald sexuellen Missbrauch und immer wieder Enttäuschungen vermeintlicher Liebesbeziehungen. Als 15-Jährige bricht sie eine Schwangerschaft aus Verzweiflung, die lebenslang bleibt, ab.

Doch trotz allem und bei aller Härte, teils auch in der Sprache, ist das Buch voller Hoffnung und (letztlich auch) erfüllter Liebe. So ist das Buch auch ein poetisches. Der Lebensmut kommt aus den wenigen geglückten Beziehungen, die durch’s Leben tragen und – aus Büchern.

Am Ende schreibt Elisa einen Brief an ihr kindliches Selbst: „… ich bin’s, dein Ich von 39 Jahren. Hättest du das gedacht? So lange zu leben? Es lohnt sich, das kann ich dir sagen.“

Sarah Lorenz: Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken. Roman, Rowohlt 2025, ISBN 978-3498006990, 221 Seiten, 24,00 Euro.

Markus Weber über „Das Narrenschiff“

Markus Weber über „Das Narrenschiff“

Christoph Hein: Das Narrenschiff

Christoph Hein, bedeutender zeitgenössischer Schriftsteller und aufgewachsen in der DDR, hat einen großen und schwergewichtigen Roman über die Geschichte der DDR geschrieben. Die Geschichte beginnt schon in den letzten Kriegstagen in Berlin und führt bis hin zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten.

Im Zentrum der Erzählung stehen fünf Personen, die an diesen Staat glaubten und ihn mittrugen – eine durchaus ungewöhnliche und umso spannendere Perspektive. Bei aller Unterschiedlichkeit sind sie durch ihre staatstragenden Stellungen und privaten Verbindungen miteinander verbunden.

Dabei sind die Motive ihrer Haltungen zur DDR durchaus unterschiedlich, zum Beispiel: Karsten Emser war als linker Professor für Ökonomie vom NS-Staat entlassen worden und in die Sowjetunion ausgewandert, um dann von Beginn an beim Aufbau des neuen Staates dabei zu sein. Heinrich Goretzka war als überzeugter Nazi in den Weltkrieg gezogen und in der Umerziehung in sowjetischer Kriegsgefangenschaft zum kommunistischen Gefolgsmann geworden, um dann umso dogmatischer die Staatsdoktrin zu vertreten. Seine Frau drängte er zum Eintritt in die Partei, damit sie Karriere machen konnte.

Alle Zweifel an den Entscheidungen im Staat werden nicht zuletzt im Sinne auch eigener Interessen letztlich der Partei untergeordnet: „Man darf sich irren, aber nie gegen die Partei. Und wenn die Partei sich irrt, machst du einen Fehler, wenn du diesen Irrtum nicht teilst. Man darf nie gegen die Partei recht haben, denn sie allein hat immer recht.“ Erst die nachfolgende Generation nimmt sich das Recht auf mehr Distanz, wenn auch mit Kompromissen.

Geschickt verbindet Hein das Schicksal und den Alltag der Personen mit der Entwicklung und den Wendepunkten der Geschichte der DDR, die quasi im Hintergrund und in den Gesprächen miterzählt wird. So wird deutlich, woran der Staat mit seiner Ideologie krankte und letztlich scheiterte oder scheitern musste. Doch auch der Ausblick in die Verhältnisse nach dem Mauerfall fällt durchaus kritisch aus.

Christoph Hein gelingt ein gut erzählter Roman, bei dem man immer erwartungsvoll den nächsten Ereignissen und Verwicklungen entgegensieht und nicht aufhören möchte zu lesen. Dass man doch Lesepausen machen kann, wird durch die Einteilung in kleine Kapitel erleichtert, die in sich thematische Einheiten bilden. Tatsächlich ist der Roman auch für mich ein „eindrucksvolles historisches Panorama“, wie Steffen Mau urteilt.

Christoph Hein: Das Narrenschiff. Roman, Suhrkamp Verlag 2025, 750 Seiten, ISBN 978-3518432266, 28,00 Euro.

Markus Weber über „Ein fröhliches Begräbnis“

Markus Weber über „Ein fröhliches Begräbnis“

Ljudmilla Ultizkaja: Ein fröhliches Begräbnis

Es ist schon zunächst ein befremdlicher Buchtitel – „Ein fröhliches Begräbnis“. Aber er bringt gut zusammen, worum es in dem Buch der russischen Autorin, die vom Sender Arte als das „unbequeme Gewissen Russlands“ bezeichnet wurde, geht.

Der Kunstmaler Alik hat nicht mehr lange zu leben, seine Lähmungen schreiten voran. Um ihn sammeln sich in seiner Wohnung alle seine Freundinnen und Freunde. Es wird geredet und viel getrunken. Wie selbstverständlich ist Alik der Mittelpunkt dieser bunten Gesellschaft, in der sich Mitte der 1990er Jahre russische Emigranten sehr unterschiedlicher Weltanschauungen, eine Mischung russischer und amerikanischer Kultur, Juden und Russisch-Orthodoxe oder Atheisten in New York sammeln. Eine verrückte Welt.

Ljudmilla Ultizkaja erzählt auf wunderbare Weise vom Zusammenleben in dieser Gesellschaft. Die Sprache ist teils recht derb, niemals aber vulgär; sie ist vom Leben gesättigt, so wie die Menschen, die dort mit den unterschiedlichsten Geschichten zusammenkommen. Nach und nach werden auch deren Geschichten erzählt, von der Ehefrau, seinen Geliebten, den Ärzten, Musikern und Künstlern, die sich mit der amerikanischen Lebenswelt arrangiert haben oder ihr immer noch fremd sind.

Es ist trotz der Krankheit eine lebensfrohe Geschichte, die gerade auch durch den Humor von Alik geprägt wird. So ist es trotz des Themas ein sehr lebensbejahender Roman – ein „fröhliches Begräbnis“ eben.

Ljudmilla Ultizkaja: Ein fröhliches Begräbnis. Roman, dtv Neuausgabe 2022, 176 Seiten, ISBN 978-3423148559, 13,00 Euro.

Markus Weber über „Die Lichter von Budapest“

Markus Weber über „Die Lichter von Budapest“

Oliver Diggelmann: Die Lichter von Budapest

Anatol kommt im Gefolge seiner Freundin Sophie, die als Juristin im Auftrag einer international agierenden Kanzlei tätig ist, nach Budapest. Während Sophie ehrgeizig ist, ist Anatol wenig ambitioniert, bekommt aber als guter Kenner der englischen Sprache eine Stelle an einer „Akademie für Diplomatie der Republik Ungarn“ – quasi als „Zugabe“ für Sophie.

Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt. Mit dem Blick von außen wird die Vergangenheit erzählt, vor allem, wie verschiedene Protagonisten sich in England kennenlernen und anfreunden. Vor allem der aus Ungarn stammende, nur Castro genannte Freund, spielt eine zunächst undurchschaubare Rolle. Die Gegenwart wird aus der Perspektive von Anatol erzählt, der erst gleichgültig erscheint, aber zunehmend mit undurchsichtigen Machenschaften bekannt wird und sich darin verstrickt.

Dabei verweben sich private Beziehungen, Freundschaften, Liebesbeziehungen und -verrat mit dunklen Geschäften und Korruption. Anatol erfährt von politischen Manipulationen mit EU-Geldern; auf Nachfragen wird ihm aber immer wieder gesagt, er wisse eben nicht, wie das Leben in Ungarn funktioniert. Irgendwann muss er sich entscheiden, wie er mit seinem Wissen umgehen will, und gerät in Konflikte – mit sich, seiner Fteundin Sophie und auch seinem Freund Castro.

Über die Stadt Budapest erfährt man nicht viel, obwohl der Titel das ja nahelegen könnte. Dafür erfährt man aber einiges über die Mechanismen der Politik in der Zeit, bevor Viktor Orban an die Macht gekommen ist – und darüber, auf welche Weise Orban an die Macht kommen konnte.

Oliver Diggelmann: Die Lichter von Budapest. Roman, Alfred Kröner Verlag 2023, 180 Seiten, ISBN 978-3520769015, Preis: 22,00 Euro.

Markus Weber über „Russische Spezialitäten“

Markus Weber über „Russische Spezialitäten“

Dimitrij Kapitelman: Russische Spezialitäten

Einige wenige Seiten habe ich mit dem Stil des Autors ein wenig gefremdelt. Recht bald war ich aber froh, dass ich mich doch nicht habe abschrecken lassen. Schließlich ist es eins seiner sprachlichen Mittel, russische Begriffe zum Teil auch in kyrillischer Schrift im Text zu verwenden, um eine gewisse Fremdheit des Milieus und der beschriebenen Personen bestehen zu lassen. Dimitrij Kapitelmann ist als Kind mit seiner Familie, die Anfang der 1990er Jahre als „jüdische Kontingentflüchtlinge“ aus der Ukraine kam, in Leipzig gelandet.

Dort baut die Familie sich eine neue Existenz auf und verkauft im eigenen Laden russische Spezialitäten, die sie selbst importiert. Man bleibt der russischen Kultur und Sprache verbunden: „Heimat ist der Ort, der einem nie egal wird“, heißt es an einer Stelle über Kiew, im Roman konsequent Kyjiw geschrieben. Auch der junge Dimitrij liebt bei all seiner Unzulänglichkeit die russische Sprache. Ironisch, humor- und liebevoll beschreibt Kapitelman seine Familie und die Eigenheiten des Milieus. Auch die Bedrohungen durch Rechtsextreme in Leipzig scheinen ebenso auf wie die Untätigkeit des Staates.

Einen Bruch gibt es in der Familie mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Die Mutter schaut die Welt weiterhin aus der „totalitären fernsehrussischen Sicht“ an, was den Sohn zur Verzweiflung bringt und seine Liebe zur Mutter auf eine harte Probe stellt. In dieser Situation reist er gegen alle Vernunft in die Ukraine und besucht dort alte Freunde. Er will sich selbst ein Bild vom Krieg machen und die ideologisch verbohrte Sicht seiner Mutter widerlegen.

Er sieht, wie der Krieg die Ukraine und das Zusammenleben verändert hat. Angst, Misstrauen, zerstörte Städte: „Das blanke Grauen, das im Fernsehen zu sehen war, bleibt auch das blanke Grauen im Nahsehen.“ Die Brutalität des Krieges macht auch vor der ukrainischen Gesellschaft nicht Halt. Irgendwie versuchen die Menschen dennoch zu überleben. Die eigene Identität steht auf dem Spiel – bei den Menschen in der Ukraine, aber auch für den Autor selbst.

Bei aller Ernsthaftigkeit und Schwere des Themas gelingt Dimitrij Kapitelman ein wunderbares Buch.

Dimitrij Kapitelman: Russische Spezialitäten. Roman, Hanser Verlag 2025, 192 Seiten, ISBN 978-3446282476, 23,00 Euro.

Markus Weber über „Die Holz- und Pappenindustrie im Harzburger Radautal“

Markus Weber über „Die Holz- und Pappenindustrie im Harzburger Radautal“

Edgar Isermann: Die Holz- und Pappenindustrie im Harzburger Radautal 1865 – 1961

Schon im vergangenen Jahr hat der Bad Harzburger Geschichtsverein das Buch herausgegeben, das leider bisher zu wenig Beachtung gefunden hat. Immerhin erzählt der Autor, Edgar Isermann, ein bedeutendes Kapitel der Harzburger Wirtschaftsgeschichte, deren Spuren zum Teil heute noch zu sehen sind.

Der Autor war zum Schreiben motiviert, weil seine Familiengeschichte mit der Holzindustrie im Radautal verbunden ist: Sein Großvater und sein Onkel haben eine der ehemaligen Fabriken lange Zeit geleitet. So kann Edgar Isermann nicht nur auf amtliche Dokumente zurückgreifen, sondern auch auf die Überlieferung der Familie. Und er hebt einen Teil der Harzer Industriegeschichte hervor, der nicht vergessen werden sollte und der im Buch anschaulich dargestellt wird. Dabei beschränkt der Autor sich nicht auf die eigene Familie, sondern blickt darüber hinaus auf andere Firmen.

Die Geschichte beginnt in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Aufstieg der Holzindustrie – Holz und Wasser waren ja durch die Natur reichlich vorhanden. Gleichzeitig war zunehmender Bedarf in der Papierindustrie vorhanden, für den die Unternehmen im Radautal die Vorprodukte lieferten.

Am bekanntesten ist sicher die Zusammenarbeit mit dem Henkel-Konzern, für deren Ata-Dosen Material geliefert wurde. Angesichts der Eingriffe in die Natur und den Wasserbedarf der Stadt blieben Konflikte nicht aus, die ebenso geschildert werden wie die Erfolge.

Das Buch ist großformatig aufgemacht, sodass die Gestaltung viel Raum für zahlreiche Abbildungen – Fotos, alte Ansichtskarten, Dokumente – hatte. Dadurch lädt es auch ein zum Blättern und Verweilen an der ein oder anderen Stelle. Man kann es selbstverständlich wie jedes Buch von vorne bis hinten lesen, aber man kann sich auch von Bildern oder Überschriften verleiten lassen und herausgreifen, was gerade attraktiv erscheint. Ich wünsche dem Buch, dass es in vielen Bad Harzburger Haushalten – und darüber hinaus – vorhanden ist.