Also sprach Sarah Tustra

Also sprach Sarah Tustra

Matthias Steinbach:

Also sprach Sarah Tustra

Nietzsches sozialistische Irrfahrten

Friedrich Nietzsche war sicher einer der umstrittensten Philosophen des 19. Jahrhunderts mit einer langen und breiten Wirkungsgeschichte. Was geschieht aber, wenn nicht das freie Argument in der Auseinandersetzung um seine Positionen wirken darf, sondern der Staat im vermeintlichen Besitz der Wahrheit entscheidet, was gesagt und geschrieben werden darf? Darum geht es im Buch von Matthias Steinbach, Professor für Geschichte an der TU Braunschweig, der den Konflikten um Nietzsche in der DDR nachgeht.

So ist es nicht nur ein Buch über die dogmatische Festlegung der DDR-Führung, Nietzsche habe mit seiner Philosophie dem Faschismus vorgearbeitet. Vielmehr führt es auch „mitten hinein in den intellektuellen und kulturellen Alltag des real existierenden Sozialismus“ mit all seiner Engstirnigkeit, mit Denunziationen und Überwachung. Und es zeigt die Versuche, starre Haltungen aufzubrechen. Die Gedankengänge verlangen durchaus eine gedankliche Konzentration, die jedoch immer wieder anekdotisch und unterhaltsam aufgelockert werden. Auch führt das Buch an die Orte, an denen Nietzsche Spuren hinterlassen hat. Zudem lässt Steinbach den Leser an seinen persönlichen Erfahrungen im Studium in der DDR Ende der 1980er Jahre teilhaben.

Der merkwürdige Titel des Buch verweist übrigens darauf, dass die Stasi-Offiziere, die Protokolle der Überwachung von Verdächtigen anfertigten, weder Nietzsches Namen noch die Titel seiner Werke richtig schreiben konnten.

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Matthias Steinbach: »Also sprach Sarah Tustra«. Nietzsches sozialistische Irrfahrten, Mitteldeutscher Verlag 2020, ISBN 978-3963114243, 288 Seiten, 20,00 Euro

Ein besonderer Leckerbissen zum Buch: Matthias Steinbach wird am 17. Juni 2022 in der Bücherheimat aus seinem Werk lesen und es vorstellen. Man darf sich nicht nur auf einen lehrreichen, sondern auch unterhaltsamen Abend freuen. Näheres wird rechtzeitig bekannt gegeben.

Alissa kauft ihren Tod

Alissa kauft ihren Tod

Ljudmila Ulitzkaja:

Alissa kauft ihren Tod

Humorvoll erzählt Ljudmila Ulitzkaja nicht alltägliche Alltagsgeschichten vor allem von Frauen, die sich unterschiedlichen Herausforderungen in ihrem Leben stellen müssen. Dabei ergeben sich Einblicke in das Leben in Russland, die aber vor allem auch gängige Erwartungen durchbrechen.

In der Titelgeschichte lernen wir Alissa kennen, die selbstbewusst ins Alter gekommen ist und auf der Suche nach einem Mittel, um selbstbestimmt sterben zu können, nun einem neuen Reichtum im Leben begegnet. Oder die Schwestern Nina und Lidija, die einander in Abneigung zugetan sind und sich und ihre Mutter erst nach deren Tod kennenlernen. Oder Sarifa und Mussja – die eine Aserbaidschanerin, die andere Armenierin – die eigentlich verfeindet sein müssten, aber in Liebe vereint sind. Oder Sonja, die sich nach der Trennung von ihrem Mann in einen Schmetterling verwandelt … Aber entdecken Sie die Vielfalt der Geschichten selbst.

Bei aller Ironie und teils schwarzem Humor in den Erzählungen wird immer die menschenfreundliche Grundhaltung deutlich, mit der die Autorin schreibt. Wie im Gedicht ausgedrückt, das sie den Erzählungen voranstellt: „… ich liebe diese leichtsinnigen, weisen, schamlosen, bezaubernden, verlogenen, wunderbaren, abergläubischen und treuen, diese überaus klugen und unfassbar dummen Frauen, von denen die Engel im Himmel noch lernen könnten …“

Es lohnt, die Bücher von Ljudmila Ulitzkaja zu lesen, zumal in einer Kriegszeit, in der die Gefahr besteht, alles Russische undifferenziert zu verteufeln. Sie selbst bezeichnet sich als russische Schriftstellerin jüdischer Herkunft und christlicher Prägung. Die Autorin gehört zu denen, die Putin und den Überfall auf die Ukraine scharf verurteilen; inzwischen ist sie – zumindest vorübergehend – nach Deutschland gezogen.

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Ljudmila Ulitzkaja: Alissa kauft ihren Tod. Erzählungen, Carl Hanser Verlag 2022, ISBN 978-3446269651, 304 Seiten, 25,00 Euro.

Exophonien

Exophonien

Halyna Petrosanyak:

Exophonien

Im Rhythmus der Landschaft. Gedichte

Seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine habe ich gemerkt, wie wenig ich von ukrainischer Kultur weiß. Da war es ein Glücksfall, auf die gerade erschienene Gedichtauswahl von Halyna Petrosanyak, die seit einigen Jahren in der Schweiz lebt, zu stoßen.

Viele Gedichte sind angeregt durch Orte und Landschaften. In ihnen klingen zentrale menschliche Themen an – Heimat und Fremde, Sehnsucht und Zweifel. Dabei gelingt es der Poetin immer wieder, auch großen, scheinbar selbstverständlichen Worten neue Bilder zu geben und Perspektiven zu eröffnen. So laden die Gedichte zum Innehalten ein.

Die Texte sind von verschiedenen Übersetzerinnen und Übersetzern aus dem Ukrainischen ins Deutsche übertragen worden, denen man anmerkt, wie fruchtbar um die Worte gerungen wird: So sind einige Texte sogar mehrfach übersetzt; jede Übersetzung eröffnet andere Nuancen.

Und einige Gedichte sind einfach ermutigend, wie das Ende des Gedichts mit dem Titel „Liebe“:

Der grösste Luxus
ist zu hoffen,
dass die Liebe
nicht eher
endet
als
das Leben.

Halyna Petrosanyak: Exophonien. Im Rhythmus der Landschaft. Gedichte, Verlag: Der gesunde Menschenverstand 2022, ISBN 978-3038539919, 96 Seiten, 17,00 Euro.

See. Not. Rettung.

SeeNotRettung
SeeNotRettung

Tobias Schlegl:

See. Not. Rettung.

Meine Tage an Bord der Sea-Eye 4

Tobias Schlegl hat ein bewegendes und sehr persönliches Buch über seinen freiwilligen Einsatz auf dem Seenotrettungsschiff Sea-Eye 4 geschrieben. Das Buch ist kein distanzierter Bericht, sondern Schlegl verarbeitet auch seine Erfahrungen. Denn: Wer die Lebensgeschichten der Geflüchteten hautnah miterlebt hat, der wird selbst verändert.

Tobias Schlegl war lange Fernsehmoderator, zunächst bei Viva, dann bei der Satiresendung Extra3 und für das Kulturmagazin aspekte. Diese Jobs gab er zum Teil auf, um eine Ausbildung zum Rettungssanitäter zu machen – und nun fuhr er auf der Sea-Eye 4 bei einem Einsatz mit, um seine Kenntnisse in den Dienst der Sache zu stellen. Wie in einer Reportage berichtet er gut lesbar er über seine eigenen Schwierigkeiten, sich auf die Situation an Bord einzustellen, über Vorbereitungen und Schwierigkeiten, über das internationale Team an Bord, über behördliche Schikanen im Hafen, den gefährlichen Wettlauf mit der libyschen Küstenwache und die dramatische Rettung Geflüchteter – im Mittelpunkt aber stehen die Geflüchteten selbst mit ihren Geschichten. Sie machen deutlich, dass niemand sich leichtfertig auf dem Mittelmeer in Lebensgefahr begibt. Sie alle haben brutale Erfahrungen in ihrem Leben gemacht.

Tobias Schlegl haben nach Bekanntwerden seines Einsatzes und Erscheinen des Buches heftige Anfeindungen und Hassbotschaften im Netz erreicht. Das Buch entlarvt diese Verleumdungen. Das Anliegen der Sea-Eye 4 und des Autors werden mehr als deutlich: „Seenotrettung ist humanistische Pflicht. Bei allen politischen Diskussionen um die Migration ist das doch das Mindeste, auf das sich alle einigen können sollten.“ So ist das Buch auch ein Appell an Gesellschaft und Politik dafür zu sorgen, dass niemand mehr im Mittelmeer ertrinken muss. Denn bisher ist das Mittelmeer „ein riesiger Friedhof“. Und das darf nicht so bleiben.

Tobias Schlegl: See. Not. Rettung. Meine Tage an Bord der Sea-Eye 4, Piper Paperback 2022, 224 Seiten, ISBN 978-3492063463, Preis: 16,00 Euro

Sie kam aus Mariupol

Sie kam aus Mariupol

Sie kam aus Mariupol

Natascha Wodin:

Sie kam aus Mariupol

Mariupol – eine Stadt, die beim Hören und Sehen der vielen Schreckensnachrichten aus dem gegenwärtigen Krieg gegen die Ukraine immer wieder begegnet. So kam mir wieder ein großartiges Buch in den Sinn, das ich vor einigen Jahren gelesen habe: „Sie kam aus Mariupol“ von Natascha Wodin. Das 2017 erschienene und vielfach preisgekrönte Buch, inzwischen als Taschenbuch verfügbar, beschreibt eindrücklich die Suche der Autorin nach ihrer Mutter und deren Familiengeschichte.

Natascha Wodin wurde 1945 in einem DP-Lager (Displaced Persons) als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter geboren. Die Mutter nahm sich früh das Leben, weil sie das entwürdigende Leben in Deutschland nicht ertragen konnte. Natascha, die anschließend in einem Kinderheim aufwuchs, blieben nur einige Fotos und eine Ikone von ihrer Mutter. Natascha Wodin nimmt die Leser*innen mit auf eine lange Suche nach ihrer Mutter und der Familie.

Dabei begegnet man einem bewegenden menschlichen Schicksal und den vielen Wendungen europäischer Geschichte im 20. Jahrhundert: Verfolgung unter dem Stalinismus, dem Krieg der Deutschen gegen die Sowjetunion in der Ukraine, Zwangsarbeit in Deutschland, Demütigungen in der Nachkriegszeit. Und als Leser*in kommen wir auch nach Mariupol, der Stadt am Asowschen Meer, die vor dem Ersten Weltkrieg eine multikulturelle Stadt war – Ukrainer, Russen, Griechen, Italiener, Franzosen, Deutsche, Türken, Polen, Juden lebten hier zusammen. Und fassungslos werden wir auch  mit der Zerstörung durch die Deutschen konfrontiert: „Ganz Mariupol verbrannt, gesprengt …“ Wie sich die Bilder gleichen.

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol, Rowohlt Taschenbuch 2018, 368 Seiten, ISBN 978-3499290657, Preis: 12,00 Euro.

Unverfügbarkeit

Unverfügbarkeit

Hartmut Rosa:

Unverfügbarkeit

Gelegentlich lasse ich mich gerne anregen, um über grundlegende Fragen menschlichen Lebens nachzudenken. Der Soziologe Hartmut Rosa hat es mit seinem kleinen Buch „Unverfügbarkeit“ geschafft, mir solche Anregungen zu geben. Für ihn gehört es zum individuellen und gesellschaftlichen Leben, dass Wesentliches der Verfügbarkeit entzogen ist und um der Lebendigkeit willen auch bleiben muss. An Alltagserfahrungen wie dem Schneefall oder dem Fußballspiel zeigt er das auf: „Eine Welt, die vollständig gewusst, und beherrscht wäre, wäre eine tote Welt.“

In der europäischen Moderne aber sieht er ein Projekt, das den Versuch unternimmt, die gesamte Welt – Mensch und Natur – verfügbar zu machen, zu kontrollieren und nutzbar zu machen. Von der Geburt bis zum Tod soll alles planbar und beherrschbar werden. Das führt jedoch in seinen Augen gerade nicht zu einem besseren Leben, sondern zu neuen Bedrohungen und nicht beherrschbaren Situationen, wie an Naturkatastrophen als Folge menschlicher Eingriffe oder der Unbeherrschbarkeit der Atomkraft ablesbar ist.

Neben der begrifflichen Anstrengung , die das Buch zuweilen verlangt, gibt Rosa schöne Beispiele, wo uns die Unverfügbarkeit begegnen kann und die Faszination für verschiedene Dinge wichtig bleibt – im Hören von Musik, im Lesen eines Buches, im Blick in ein menschliches Antlitz – , sofern wir dafür offen bleiben.

Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit, Suhrkamp Taschenbuch 2020, 130 Seiten, ISBN 978-3518471005, Preis: 10,00 Euro

71/72 – Die Saison der Träumer

Bernd M. Beyer: 71/72 – Die Saison der Träumer

Bernd M. Beyer: 71/72 – Die Saison der Träumer

Bernd M. Beyer:

71/72 – Die Saison der Träumer

Bernd-M. Beyer hat ein wunderbares Fußball-Buch geschrieben, das nicht nur für eingefleischte Fußballfans spannend zu lesen ist, sondern auch für alle, die an der Zeitgeschichte interessiert sind. Das Fußballgeschehen in der Bundesliga und rund um die Europameisterschaft 1972 lebt zwar auf und die Größen der damaligen Zeit wie Franz Beckenbauer, Uwe Seeler, Stan Libuda, Günter Netzer & Co werden entsprechend gewürdigt, aber vor allem wird der Fußball gekonnt eingebettet in das politisch-gesellschaftliche Geschehen Anfang der 1970er Jahre.

Es ist eine Zeit des Aufbruchs und der Veränderung. Im Fußball sind Bestechungsskandale an der Tagesordnung, Geld und Fußball verbinden sich immer mehr. Rio Reiser und seine Band Ton, Steine, Scherben geben sich revolutionär und Willi Brandts Politik verspricht neue Beziehungen mit Osteuropa und die Demokratisierung der Gesellschaft. Die RAF terrorisiert Deutschland. All das und noch mehr wird, gegliedert durch die Bundesliga-Spieltage, miteinander verbunden. So entsteht ein buntes Bild der frühen 70er, das man genussvoll lesen kann.

Bernd-M. Beyer: 71/72 – Die Saison der Träumer, Verlag Die Werkstatt 2021, 352 Seiten, ISBN 978-3730705407, Preis: 22,00 Euro

Das verlorene Paradies

Abdulzarak Gurnah: „Das verlorene Paradies“

Abdulzarak Gurnah: „Das verlorene Paradies“

Abdulzarak Gurnah:

Das verlorene Paradies

Abdulrazak Gurnah erzählt in seinem Roman, der bereits 1994 auf Deutsch erschienen war und jetzt anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises neu aufgelegt wurde, die Geschichte des Erwachsenenwerdens von Yusuf. Historischer Hintergrund der Geschichte, die an der Küste Ostafrikas spielt, ist die beginnende deutsche Kolonialherrschaft, die erst nach und nach wahrnehmbar wird. Während die Menschen in der alten Welt konkret wahrnehmbar sind, anschaulich gezeichnet werden und alle einen Namen tragen, bleibt die Kolonialherrschaft zunächst abstrakt, die Europäer und Deutschen haben keine Namen. Nur die Gewaltförmigkeit lässt sich erahnen.

Ohne Chance auf eine Rückkehr

Yusuf ist zwölf Jahre alt, als er von seinen Eltern seinem vermeintlichen Onkel Aziz, der ein reicher Karawanenhändler ist, mitgegeben wird in eine fremde Stadt, wo er für den „Onkel“ in seinem Geschäft arbeiten muss. Nach und nach wird Yusuf deutlich, dass Aziz kein Onkel ist, sondern dass er von seinen Eltern verpfändet wurde, um ihre Schulden zu begleichen – letztlich ohne Chance auf eine Rückkehr. Die Welt Ostafrikas ist eine der Vielfalt von Ethnien und Religionen, in der aber die Anderen zumeist als unzivilisiert gesehen und als „Wilde“ bezeichnet werden – übrigens auch die deutschen Kolonialherren.

Der Untergang der bisherigen Welt wird deutlich bei einer langen Handelsreise, die Yusuf ins Landesinnere führt, die auch die Unerbittlichkeit von Natur und Machtverhältnissen vor Augen führt.

Kein Paradies

Gurnah erzählt mit leichter Hand und schildert das Zusammenleben der Menschen, aber lässt auch die Landschaften und die Natur anschaulich und erlebbar werden. Eine Welt mit der ihr eigenen Kultur – besser Kulturen – ging verloren, wurde zerstört – ein Paradies aber war auch diese Welt nicht.

Abdulrazak Gurnah: „Das verlorene Paradies“, Penguin Verlag 2021, 336 Seiten, ISBN 978-3328602583, Preis: 25,00 Euro

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Kurze Geschichte des Antisemitismus

Peter Schäfer: Kurze Geschichte des Antisemitismus

Peter Schäfer: Kurze Geschichte des Antisemitismus

Peter Schäfer:

Kurze Geschichte des Antisemitismus

Zum Thema Antisemitismus gibt es eine schier unüberschaubare Anzahl an Publikationen. Der ehemalige Direktor des Jüdischen Museums Berlin hat hier einen hervorragenden Überblick über die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis heute vorgelegt, der schon nach kurzer Zeit zum Standardwerk geworden ist. Die gesamte Darstellung ist kenntnisreich und immer an den Quellen orientiert.

Prägende Themen und Muster

Zu Beginn begründet Schäfer, warum er für die ganze Geschichte den Begriff Antisemitismus benutzt, obwohl dieser erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der rassistischen Variante entstanden ist. Für ihn sind die zu Beginn entstandenen Themen und Muster so prägend, dass er die Zusammenhänge betonen will und nur bei besonderen Ereignissen andere Begriffe – wie etwa Antijudaismus – verwendet. Auch wenn man diese Begriffsverwendung skeptisch sieht, ist sein Ansatz eine sinnvolle und fruchtbare Arbeitsgrundlage.

Schäfer beginnt seine Darstellung mit der vorchristlichen griechisch-römischen Antike, für er nachweist, dass die für Juden identitätsstiftenden Merkmale und Bräuche als menschenfeindlich diffamiert wurden und der Hass auf die Juden schließlich in Alexandria schon zu ersten Pogromen führte. Er zeigt, dass im Laufe der Geschichte bestimmte antisemitische Chiffren und Muster immer wieder aktualisiert und ergänzt werden konnten, um so jeweils neu ihre Wirksamkeit entfalten zu können. Am wirksamsten waren für ihn dabei die mit dem Christentum entstandenen Feindbilder.

Verdrängtes neigt zur Wiederkehr

In übersichtlichen Kapiteln führt Schäfer seine „Kleine Geschichte“ bis in die Gegenwart fort und thematisiert auch gegenwärtig diskutierte Problemfelder wie islamischen Antisemitismus oder die Debatte um Israelkritik und Antisemitismus kenntnisreich und überzeugend differenziert. Dabei bleibt der Text immer gut lesbar. So konnte ich viel Neues erfahren oder bekannte Sachverhalte besser einordnen – eine sehr lohnende Lektüre!

Nicht zuletzt um aktuelle Entwicklungen und Diskussionen einordnen zu können, ist Schäfers Werk von hohem Wert. Auch wenn eine Erkenntnis aus der Geschichte zu sein scheint, dass Antisemitismus „nie ein für alle Mal überwunden sein wird“, helfen vor allem die bewusste Auseinandersetzung gegen Antisemitismus und dessen Aufarbeitung, denn Verdrängtes neigt zur Wiederkehr.

Peter Schäfer: Kurze Geschichte des Antisemitismus, C.H. Beck 2020, 335 Seiten, ISBN 978-3406755781, Preis: 26,95 Euro. | Ende April 2022 wird eine günstigere Taschenbuchausgabe im Piper-Verlag erscheinen.

Nichts muss so bleiben, wie es ist

Heinrich Missalla: „Nichts muss so bleiben, wie es ist“.

Heinrich Missalla: „Nichts muss so bleiben, wie es ist“.

Heinrich Missalla:

Nichts muss so bleiben, wie es ist

Erst jetzt habe ich die autobiografischen Aufzeichnungen des 2018 verstorbenen Priesters, Theologieprofessors und langjährigen geistlichen Beirats der katholischen Friedensbewegung pax christi kennengelernt. Mich hat das Buch gerade in seiner recht nüchternen Sprache und teils harten Analyse sehr angesprochen und zum eigenen Nachdenken angeregt – ob sich allerdings viele Menschen überhaupt noch für ein „katholisches Leben im 20. Jahrhundert“ interessieren, vermag ich nicht zu sagen.

Bewusste ideologische Distanz

Geboren im Jahr 1926 und aufgewachsen in einem geschlossen katholischen Milieu im Ruhrgebiet, beschreibt er die Atmosphäre in der Familie, seine Erfahrungen in Schule und Hitlerjugend und wie er geprägt wurde durch kirchliche Einflüsse. Allerdings bewahrt ihn seine bewusste ideologische Distanz zu den Nationalsozialisten, gar die Einsicht in die Unvereinbarkeit von Katholisch- und Nazi-Sein, nicht davor, den Dienst als Luftwaffenhelfer und weiteren Einsatz während des Krieges als selbstverständliche religiöse und vaterländische Pflicht zu verstehen. Diese Erkenntnis und das – über lange Zeit verdrängte – Erschrecken darüber, wie der staatliche Drill ihn bereit machte, die Waffe gegen andere Menschen zu richten, bleibt prägend für sein späteres Leben und seine gesellschaftliche und theologische Reflexion. Doch nach dem Krieg muss er erfahren, dass weder in der Gesellschaft noch in der Kirche die entstandenen Fragen so bearbeitet wurden, wie es nötig gewesen wäre, so etwa die Verstrickung der katholischen Seelsorge im Krieg, die er zu einem seiner wissenschaftlichen Themen macht.

Fragen und Suchen

In seinem beruflichen und ehrenamtlichen Engagement wird ihm der Wirklichkeitsverlust und die Reformunwilligkeit und -unfähigkeit der römischen Kirche immer deutlicher. Statt den angeblichen Besitz ewiger Wahrheiten zu hüten und zu verwalten, wird ihm das Fragen und Suchen immer wichtiger – nach Lebensformen, die dem Evangelium und einer geschwisterlichen Gemeinde entsprechen und nach Konfrontation des Glaubens mit der erfahrenen Wirklichkeit. Deshalb engagiert er sich für die Ökumene und christlich-jüdische Verbundenheit, vor 1989 sind ihm Beziehungen in die Kirchen der DDR wichtig und lebenslang das Eintreten für friedenspolitische Themen. Auch wenn der Glaube persönlich ist, privat ist er niemals.

In den letzten Kapiteln des Buches hält Missalla für ihn wesentliche Einsichten und Möglichkeiten fest. Bei aller scharfer Kritik schiebt er Verantwortung für Fehlentwicklungen nicht einfach ab auf andere Personen und hierarchische Instanzen, sondern bedenkt immer auch eigene Verantwortung. Eine – erfreuliche – persönliche Entwicklung: Mit 70 Jahren heiratet Missalla und findet hier Erfüllung, auch wenn es den Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis zur Folge hat. Was ihm am Ende bleibt: Das Vertrauen auf den Gott der Bibel.

Heinrich Missalla: „Nichts muss so bleiben, wie es ist“. Mein katholisches Leben im 20.Jahrhundert, Publik-Forum Edition 2009, 224 Seiten, ISBN 978-3880951877, Preis: 14,80 Euro.