Markus Weber über „Der 9. November“

Markus Weber über „Der 9. November“

Bernhard Kellermann:

Der 9. November

Mit seinem Roman „Der 9. November“ landete der Schriftsteller Bernhard Kellermann 1920 den ersten Bestseller der jungen Weimarer Republik. Und völlig zurecht ist er in diesem Jahr wieder neu aufgelegt worden. Der 9. November, den wir inzwischen zumeist mit anderen Ereignissen des 20. Jahrhunderts assoziieren, ist der Tag der Revolution 1918, an dem der Kaiser als abgedankt erklärt wurde und die Republik ausgerufen wurde.

Anders als ich erwartet hatte, schildert Kellermann in seinem Roman nun nicht die Ereignisse des Revolutionstages und seiner Folgen. Vielmehr zeigt er beginnend mit dem Anfang des Jahres 1918 vor allem auf, wie dringend erforderlich Veränderungen in Deutschland und Europa waren. Wie dringend der Krieg angesichts der Leiden der Soldaten und der Not der Zivilbevölkerung beendet werden musste. Und wie dringend die alte monarchische Ordnung durch eine neue demokratische Ordnung ersetzt werden musste.

Für all das findet Kellermann sehr eindringliche Bilder, wobei historische Realität und Traumbilder, die aus dem Schrecken geboren werden, nicht immer unterscheidbar sind. Die Geschichte rankt sich insbesondere um die Figur des Generals von Hecht-Babenberg. Für ihn war die Welt „bevölkert von Wesen, die in Uniformen gekleidet waren und mit einer Salve ins Grab gelegt wurden. … Sie waren mit einem Wort Soldaten, Werkzeug in der Hand der Starken dieser Erde …“ Alle anderen Figuren sind auf die ein oder andere Weise mit dem General verbunden.

Für mich war es kein Buch, das ich in einem Rutsch und ohne Unterbrechung durchlesen konnte. Zum Teil habe ich mir nur kleine Stücke zugemutet. Dennoch oder gerade deshalb ist es ein lohnenswertes Buch, zumal die Institution des Krieges auch mehr als hundert Jahre später nicht abgeschafft wurde. Das Buch ist vor allem ein „beschwörender Aufruf zu Humanität und Völkerverständigung“, wie es auf dem Klappentext heißt.

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Bernhard Kellermann: Der 9. November. Roman, wbg Theiss 2023, ISBN 978-3806246179, 448 Seiten, Preis: 28,00 Euro

Markus Weber über „Blaupause“

Markus Weber über „Blaupause“

Theresia Enzensberger:

Blaupause

Voller Hoffnungen und Träume geht Luise Schilling 1921 ans Bauhaus in Weimar, um Architektin zu werden. „Ich will die Zukunft bauen und die Vergangenheit abreißen“ – so lautet ihr Lebensmotto. In Weimar begegnet sie den berühmten Künstlern, die das Bauhaus prägen: Gropius, Itten, Kandinsky, Klee. Schwärmerisch schließt sie sich der esoterisch angehauchten Studentengruppe um den Farbtheoretiker Johannes Itten an, die sich mit eigenen Regeln und Riten von anderen abgrenzen.

Doch sie merkt bald, dass sie mit ihren Vorstellungen an Grenzen stößt. Selbst am fortschrittlichen Bauhaus ist es für sie als Frau eigentlich nicht vorgesehen, die Holzwerkstatt und die Architektenklasse zu besuchen. Auch am Bauhaus herrschen die gesellschaftlichen Vorurteile gegen Frauen vor. So muss sie für ihre Vorstellungen kämpfen. Die Eltern beordern sie zurück nach Berlin. Erst nach einem Bruch mit der Familie kann Luise ihr Studium schließlich am Bauhaus in Dessau fortsetzen und das Diplom in Architektur machen.

Nicht nur die künstlerischen Ambitionen des Bauhauses und dessen Beschränkungen werden deutlich, auch grundsätzliche Fragen stellen sich: „Ein neuer Mensch, das war das Ziel. Bewegt und geprägt durch die neuen Formen, die ihm umgeben. Aber wie soll das möglich sein, wenn diese Formen doch immer nur von alten Menschen mit all ihren Fehlern und Mängeln geschaffen werden können?“ Das Zusammenleben der Studierenden ist zudem beeinflusst durch die Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik und die Skepsis der Gesellschaft gegen die Moderne: Freigeister, Kommunisten und Nationalsozialisten treffen aufeinander.

So ist Theresia Enzensberger mit ihrem Debut ein toller Roman gelungen, der nicht nur das Bauhaus in all seiner Vielschichtigkeit und die Leichtigkeit studentischen Lebens zeigt, sondern auch die politisch-gesellschaftliche Atmosphäre der Weimarer Republik mit ihren Widersprüchen lebendig werden lässt.

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Theresia Enzensberger, Blaupause. Roman, dtv Verlagsgesellschaft 2019, 256 Seiten, ISBN 978-3423146715, Preis: 12,00 Euro.

Eine kleine Zugabe für Bad Harzburger: Auf dem Cover-Foto aus dem Jahr 1927, das für das Buch koloriert wurde, ist in der oberen Reihe links Georg Gross, Bruder des Harzburger Textilhändlers Felix Gross, zu sehen, der am Bauhaus studierte und sich nach seiner Auswanderung nach Palästina Schlomo Ben-David nannte. Ein ausführlicher Text zur Familiengeschichte findet sich im Uhlenklippen-Spiegel Nr. 137 / Mai – August 2023.

Markus Weber über „Das Schloss der Schriftsteller“

Markus Weber über „Das Schloss der Schriftsteller“

Uwe Neumahr:

Das Schloss der Schriftsteller

Von November 1945 bis Oktober 1946 fand in Nürnberg gegen führende Repräsentanten des NS-Staates der Hauptkriegsverbrecherprozess statt. Die drei Siegermächte USA, Sowjetunion und Großbritannien wollten gemeinsam mit Frankreich diejenigen öffentlich anklagen und zur Verantwortung ziehen, die für den Weltkrieg und Verbrechen gegen die Menschheit verantwortlich waren.

Dieser Prozess wird aus einer interessanten Perspektive betrachtet, nämlich aus derjenigen der Journalisten, Reporterinnen und Schriftsteller, die hier zusammengekommen waren, um zu berichten. Untergebracht waren sie im Schloss der Schreibwarenfabrikanten Faber-Castell, das als „Press Center“ eingerichtet war. So kam hier eine illustre Schar auch international bekannter Persönlichkeiten zusammen – u.a. von Erika Mann über Erich Kästner, Alfred Döblin, John Don Passos, Martha Gelhorn bis hin zu Willy Brandt und Markus Wolf. Sehr einfühlsam ist der Wahrnehmung dieser Persönlichkeiten jeweils ein Kapitel gewidmet, wobei jeweils unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden.

So kommt ein sehr vielfältiges Bild zustande, das nicht nur von den jeweiligen politischen Standorten, sondern auch den nationalen Haltungen und Vorgaben geprägt ist. Man bekommt einen Eindruck von den beginnenden Spannungen zwischen den Siegermächten und dem Kalten Krieg.

Leider kommt die sowjetische Sicht nur recht kurz zum Tragen. Dennoch wird nicht nur der Prozess in aller widersprüchlichen Bewertung beleuchtet, sondern auch die Persönlichkeiten der Angeklagten – von Faszination bis Abscheu.

Und das Buch bietet ebenso einen Blick auf das zerstörte Nürnberg und auf Nachkriegsdeutschland. Die Kontroversen sind eindrücklich aufgezeigt, beispielhaft an den Geschwistern Mann: Während Erika nach der Exilszeit den Deutschen unversöhnlich gegenübersteht, setzt sich ihr Bruder Golo in den 80er Jahren für die Freilassung von Rudolf Hess, dem Stellvertreter Adolf Hitlers, ein.

Ein sehr lesenswertes Buch!

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Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg ’46. Treffen am Abgrund, Verlag C.H. Beck 2023, 304 Seiten, ISBN 9783406791451, Preis: 26,00 Euro.

Markus Weber über „Erwarte von mir keine frommen Sprüche“

Markus Weber über „Erwarte von mir keine frommen Sprüche“

Stephan Wahl:

Erwarte von mir keine frommen Sprüche

Stephan Wahl, katholischer Geistlicher, der heute in Jerusalem lebt, legt mit diesem Buch kraftvolle Gebetstexte vor. Sie sind entstanden in Auseinandersetzung mit Themen und Problemen, die uns heutige Menschen bewegen oder auch quälen. Geschult sind die Texte an den biblischen Psalmen, der „Ur-Gattung der hebräischen Poesie“ (Wilhelm Bruners im Vorwort des Buches).

Oft sind konkrete Ereignisse wie die Flut im Ahrtal 2021 oder der Krieg in der Ukraine Ausgangspunkt der Texte. Nichts wird beschwichtigt oder verharmlost. Schmerz, Wut, Trauer, Klage und Anklage werden unbeschönigt zum Ausdruck gebracht. So sind die Gebete eine Auseinandersetzung mit Gott, der herausgefordert wird, und mit grundsätzlichen Menschheitsfragen, vor allem der großen, unlösbaren Frage nach dem „Warum“.

Gerade weil der Autor den schweren Fragen nicht ausweicht und keine vorschnellen Antworten gibt, können die Texte auch glaubwürdig Lob und Dank in Worte fassen. Auf diese Weise können sie Hilfen für den Leser sein, das zur Sprache zu bringen, was ihn existentiell betrifft. Wer Gott und unsere Welt mit all den Schwierigkeiten ins Gespräch miteinander bringen möchte, findet hier viele Anregungen. In diesem Sinne sind die Texte Ermutigung zum Leben.

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Stephan Wahl: „Erwarte von mir keine frommen Sprüche. Ungeschminkte Psalmen“, Echter Verlag 2022, 112 Seiten, ISBN 978-3429058012, Preis: 14,90 Euro.

Markus Weber über „Susanna“

Markus Weber über „Susanna“

Alex Capus:

Susanna

„Da war dieses Mädchen. Ich wünschte, ich wäre schon auf der Welt gewesen, als sie dem Pferdeknecht Anton Morgenthaler, der doppelt so groß, dreimal so breit und fünfmal so schwer war wie sie, in einem Akt entschlossener Notwehr mit dem rechten Zeigefinger das linke Auge ausstach.“ So beginnt der wunderbar erzählte Roman über Susanna Faesch, der uns mit vielen Überraschungen an unterschiedliche Orte und zu verschiedenen Ereignissen im 19. Jahrhundert führt.

Schon die Beschreibung Basels, in dessen calvinistischer Enge und Strenge Susanna aufwächst, zeigt anschaulich, warum sie zusammen mit ihrer Mutter ausbrechen muss, um nicht dem von Traditionen und Pflichten geprägten Alltag, in dem nichts Neues zu erwarten ist, zu erstarren. Auch jenseits des Atlantiks bleibt Susanna offen für neue Erfahrungen, es gelingt ihr selbstbestimmt zu leben, was auch hier für Frauen nicht selbstverständlich ist.

So erleben wir mit Susanna, wie technische Erneuerungen das Leben verändern und revolutionieren und Fluch und Segen dicht beieinander liegen. Die Leser*innen können das zum Beispiel hautnah miterleben bei der Eröffnung der Brooklyn Bridge am 24. Mai 1883. Während der Osten der USA industrialisiert und elektrifiziert wird, kämpfen die Ureinwohner des Kontinents ums Überleben. Auch in deren Territorium führt uns der Weg Susannas. So wird das Buch zum Erlebnis.

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Alex Capus: Susanna, Hanser, 288 Seiten, ISBN 9783446273962, Preis: 25,00 Euro.

Dienstag, 16. Mai: Im Prinzip ja

Die Grill-Frage und Alters-Humor

Der Vatertag steht an diesem Dienstag, 16. Mai 2023, vor der Tür und ich stehe vor einer weitreichenden Entscheidung: Angrillen? Bislang war es mir dafür immer noch zu frisch, aber ich handele nach dem Pfadfinder-Motto: Allzeit bereit!

Was auch insoweit passt, als in USA heute der National Barbecue Day (BBQ-Day) ansteht. Der Grill ist also geputzt und die entsprechende Fachliteratur im Bücherregal nach vorn gerückt. Mit der Bücherauswahl oute ich mich zwar als Mitglied der „weltumspannenden Weber-Grillfamilie“, aber sei’s drum. „Weber’s Grillbibel“, der Klassiker im Original, darf ebenso wenig fehlen wie der zweite Band. Und „Weber’s Veggie“ (eBook) bietet mehr als 60 vegetarische Grillrezepte aus aller Welt.

Weltberühmte Bücher erschienen heute vor 213 Jahren (1810):  „Die Tafeln zur Farbenlehre und deren Erklärungen“ waren einst dem eigentlichen Hauptwerk, Goethes zweibändiger Farbenlehre, als Sonderkonvolut beigegeben, faszinieren aber bis heute durch ihre bildnerische Strahlkraft.

Selbst an Witzen merke ich mittlerweile, wie alt ich geworden bin. Als ich las, dass heute vor 104 Jahren (1919) in Jerewan die Staatliche Universität gegründet wurde, musste ich sofort an die Radio-Eriwan-Witze denken. Deren Aufbau war immer gleich, Wikipedia liefert ein schönes Beispiel:

Anfrage an Sender Jerewan: Stimmt es, dass Iwan Iwanowitsch in der Lotterie ein rotes Auto gewonnen hat? –  Antwort: Im Prinzip ja. Aber es war nicht Iwan Iwanowitsch, sondern Pjotr Petrowitsch. Und es war kein rotes Auto, sondern ein blaues Fahrrad. Und er hat es nicht gewonnen, sondern es ist ihm gestohlen worden. Alles andere stimmt.

Die Bücher sind offenbar nur noch antiquarisch zu haben. Aber wozu gibt es den BÜCHER-HEIMAT-Suchservice. Wer in (vergangenen) Witze-Welten schwelgen will, dem kann geholfen werden.

Vor 70 Jahren (1953) standen Edmund Hillary und Tenzing Norgay auf dem höchsten Gipfel der Welt und wurden damit weltberühmt. Ich muss gestehen, dass mir der Name Junko Tabei nichts sagte. Die japanische Bergsteigerin erreicht 1975 als erste Frau den Gipfel des Mount Everest. In „Honouring High Places: The Mountain Life of Junko Tabei“ wird so den „hohen Plätzen“ vor allem eine außergewöhnliche Frau geehrt.

Um so mehr sagte mir der Name Tucker Carlson. Der US-Fernsehmoderator startete als Liberaler und endete als Prediger rechtsextreme Positionen, bis ihn Fox News Channel feuerte. Falschinformationen zur Präsidentschaftswahl 2020 kosteten den Sender hunderte Millionen Dollar. Vielleicht hätten die Bosse vorher „Fake Facts“ lesen sollen, um zu erkennen, „wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“.

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Markus Weber über „Transatlantik“

Markus Weber über „Transatlantik“

Volker Kutscher:

Transatlantik

Die erfolgreiche Serie der Kriminalromane über den Berliner Kommissar Gereon Rath von Volker Kutscher ist mittlerweile beim neunten Band angekommen. Die ersten Bände sind erfolgreich verfilmt worden unter dem Titel „Babylon Berlin“. Mir gefallen die Bücher deutlich besser als die Verfilmungen, die zu sehr auf Effekte setzen.

Nachdem die ersten Romane historisch am Ende der Weimarer Republik angesiedelt waren, sind wir inzwischen im Jahr 1937 angekommen. Gereons Frau Charly nimmt nun mit ihren Aktivitäten einen ebenso bedeutenden Raum ein wie Gereon, der nach seinem fingierten Tod in Wiesbaden untergetaucht ist. Charly arbeitet nach dem politisch bedingten Ausscheiden aus dem Kriminaldienst in einer Detektei und kämpft nicht nur um ihren Pflegesohn Fritz, sondern bald auch um ihr eigenes Leben. Nicht umsonst heißt die Folge „Transatlantik“, spielt ein Teil der Handlung doch im kriminellen Untergrund New Yorks. So ergeben sich vielfältige Verwicklungen und Überraschungen, die immer wieder für Spannung sorgen und gleichzeitig Einblicke in das Milieu Mitte der 1930er Jahre bieten.

Auch wenn Handlungsstränge der vorhergehenden Romane aufgegriffen und fortgeführt werden, kann man als Leser*in auch im neunten Band in die Reihe einsteigen. Doch kann ich ebenso empfehlen, mit dem ersten Band „Der nasse Fisch“ zu beginnen. Für gute und spannende Unterhaltung vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Ereignisse des 20. Jahrhunderts ist in jedem Fall gesorgt.

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Volker Kutscher: Transatlantik. Der neunte Rath-Roman, Piper Verlag 2022, 587 Seiten, ISBN 978-3492071772, 26,00 Euro

Für Einsteiger in die Welt des Kommissars Gereon Rath:

Volker Kutscher: Der nasse Fisch. Der erste Rath-Roman, Piper Verlag 2020, 540 Seiten, ISBN 3492315941, 14,00 Euro

Markus Weber zu „Über Israel reden“

Markus Weber zu „Über Israel reden“

Meron Mendel:

Über Israel reden

Meron Mendel, Leiter der Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt und Professor für Soziale Arbeit, hat ein Buch zur richtigen Zeit geschrieben. Am 14. Mai steht nicht nur der 75. Gründungstag Israels vor der Tür. Aktuell steht Israel ja auch im Blickpunkt wegen seiner Regierung, die unter Beteiligung rechtsradikaler Kräfte rechtsstaatlich und demokratisch fragwürdige Reformen anstrebt, der eine breite Opposition und anhaltende Demonstrationen entgegen stehen. Auch die Angst vor einer Eskalation der Gewalt zwischen Palästinensern und Israel treibt viele Menschen um. So ist das sachliche und differenzierte, dennoch klar Stellung beziehende Buch von Meron Mendel „Über Israel reden“ ein Beitrag, der die Debatten in Deutschland hoffentlich bereichert.

Mendel schreibt nicht wissenschaftlich distanziert, sondern in einer ersten Annäherung beschreibt er seine eigene Betroffenheit als „Israeli, der inzwischen auch Deutscher ist“ und seit mehr als 20 Jahren hier lebt. Während seines Militärdienstes in Israel und in den besetzten Gebieten nahm er sehr deutlich wahr, dass nicht nur Israel ein nicht zu bestreitendes Existenzrecht hat, sondern auch die Palästinenser schutzbedürftig sind, etwa gegenüber radikal-nationalistischen Siedlern. Niemals jedoch darf Kritik an der Besatzungspolitik oder die notwendige Ablehnung der Beteiligung Rechtsextremer an der gegenwärtigen Regierung zum Deckmäntelchen für Antisemitismus oder die Forderung nach einem „Schlussstrich“ unter die deutsche Geschichte werden. Da lässt Mendel sich weder von rechts noch von links vereinnahmen.

Meron Mendel möchte Räume für einen echten Dialog jenseits von Vorurteilen oder ideologischen Schranken und entgegen verfestigter politischer Lager schaffen. Dazu betrachtet er in mehreren Durchgängen die Probleme deutscher Gespräche über Israel – von der interessegeleiteten Israelpolitik der bundesrepublikanischen Regierungen, über die Auseinandersetzungen mit der BDS-Bewegung, die Israel boykottieren will, und linke Debatten und Solidaritätskampagnen für Palästina bis hin zu Fragen der Erinnerungskultur. Mit klarem Blick entlarvt Mendel Verzerrungen, die ein sachliches Gespräch verhindern.

Ich habe das Buch mit Gewinn gelesen, auch wenn ich nicht allen Wertungen zustimme (mich auch über einen sachlichen, aber für die Grundaussage unerheblichen Fehler geärgert habe) und manche Aussagen – etwa zur Erinnerungskultur – sehr zugespitzt finde. Dem Rezensenten in der Süddeutschen Zeitung kann ich voll und ganz zustimmen: Für Ronen Steinke ist das Buch ein „in großer geistiger Unabhängigkeit geschriebenes Essay eines Autors, der an billigem Applaus und muffigem Zugehörigkeitsgefühl offenbar so fantastisch desinteressiert ist, wie es auf diesem Gebiet leider sehr, sehr selten geworden ist.“

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Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte, Verlag Kiepenheuer & Witsch 2023, 224 Seiten, ISBN 978-3462003512, Preis: 22,00 Euro.

Markus Weber über „Jerusalem Ecke Berlin“

Markus Weber über „Jerusalem Ecke Berlin“

Tom Segev:

Jerusalem Ecke Berlin

Tom Segev, einer der bekanntesten israelischen Journalisten und Historiker, 1945 drei Jahre vor Gründung des Staates Israel in Jerusalem geboren, erzählt Geschichten seines Lebens. Es ist wohltuend, dass er nicht mit großer Geste ewige Wahrheiten verkündet oder sich selbst ein Denkmal setzen will, wie das manche bedeutende Persönlichkeiten in ihren Memoiren tun. Sondern Segev teilt Erinnerungen an Begegnungen mit Menschen, die sein Leben geprägt haben. Nebenbei erfährt man vieles über die Geschichte Israels, an der er als aufmerksamer und sensibler Beobachter teilgenommen hat.

Prägend für Segevs Biografie ist die Einwanderungsgeschichte seiner Eltern, beide Bauhausschüler, die vor den Nazis nach Palästina flohen, weil sie keine Alternative hatten. Der Vater stirbt schon 1948. Die Mutter, Nichtjüdin, bleibt trotz anderen Ideen ihr Leben lang in Israel wohnen, „fremdelt“ aber mit Land und Sprache. Es ist interessant zu sehen, wie Segev die Erinnerungen seiner Mutter, aber auch seine eigenen Erinnerungen immer wieder infrage stellt und auch die bleibenden Zweifel an der Darstellung des Todes seines Vaters als Held im Unabhängigkeitskrieg offen benennt. Seine Haltung gegenüber den Palästinensern wird durch einen Freund der Familie, den Journalisten David Stern, beeinflusst. Der geht mit dem vierjährigen Tom an der Teilungsgrenze in Jerusalem entlang: „Diese Grenze ist keine Linie, die zwischen guten Menschen und bösen Menschen trennt. Auch auf der anderen Seite gibt es gute Menschen.“ Diese zutiefst humane Einstellung durchzieht die Erinnerungen, egal welchen Menschen er begegnet.

Und es sind viele Menschen, denen Segev begegnet. Darunter sind zahlreiche internationale Prominente, Regierungschefs und Minister, Wissenschaftler, auch NS-Täter. Mindestens so viel Raum nehmen aber die Begegnungen mit einfachen Menschen ein, etwa einem drogensüchtigen Palästinenser, der immer wieder in Schwierigkeiten gerät und es versteht, Segev für sich einzunehmen.

Anrührend ist auch die Familiengeschichte am Ende des Buches: Eigentlich ist Segev nur als Journalist mit einer Delegation nach Äthiopien gereist, um über die Ausreise bedrohter äthiopischer Juden zu berichten. Dabei lernt er den Jungen Itayu kennen, woraus sich letztlich eine Vater-Sohn-Beziehung entwickelt. So wird der unverheiratete und kinderlose Segev doch noch Vater und Opa.

Der letzte Satz des Buches, den der viellesende Enkel Ben unvermittelt spricht, sei hier verraten, ohne zu spoilern: „Opa, weißt du, ich habe Worte furchtbar gern.“ – „Ich auch“, stimmt Opa Tom zu. Wohl im Sinne aller Freund*innen der Bücher-Heimat.

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Tom Segev: Jerusalem Ecke Berlin. Erinnerungen, Siedler Verlag 2022, 411 Seiten, ISBN 9783827501523, 32,00 Euro.

Christine Weber über „Europa – wo bist Du?

Christine Weber über „Europa – wo bist Du?

Alex Rühle:

Europa – wo bist du?

Alex Rühle unternimmt eine interessante Reise mit Bahn und Bus durch Europa abseits der Metropolen. Zu Gast ist er bei Menschen, die sich für die Belange ihrer nächsten Umgebung engagieren, aber auch das große Ganze im Blick haben.

Alex Rühle beschreibt in sehr schöner Sprache die Landschaft und die Situationen der Menschen, denen er begegnet. Ich erfahre vieles, was mir vorher nicht bekannt und bewusst war. Dinge, die mich neugierig, erstaunt, manchmal auch erschreckt und entsetzt zurücklassen.

Die Karte der Route, die Rühle nimmt, ist im Umschlag abgedruckt, sodass man seine Reise gut verfolgen und sich vergewissern kann, wo er sich gerade befindet. Verglichen mit anderen Kontinenten ist Europa zwar ziemlich klein, aber die Beschreibungen des Autors machen die unglaubliche Vielfalt deutlich. Rühle ist Autor im Kulturressort der Süddeutschen Zeitung und so mit vielen Fragen an die Menschen in den unterschiedlichen Ländern unterwegs: Was verbindet uns? Was bedeutet Europa für den Einzelnen?

Seine Kontakte spielen sich oft abseits der großen Politik und nicht in den Metropolen ab. So lautet sein Fazit: „Das Wichtigste an dieser Reise waren die Begegnungen. All die Menschen, die genau dort, wo sie gerade stehen, versuchen etwas zum Guten zu wenden.“

Eine Empfehlung für alle, die europainteressiert sind und sich abseits der großen Politik für die Menschen interessieren.

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Alex Rühle: „Europa – wo bist du? Unterwegs in einem aufgewühlten Kontinent“, dtv, 416 Seiten, ISBN 978-3423283168, Preis: 25,00 Euro.