Markus Weber über „Jerusalem Ecke Berlin“

Markus Weber über „Jerusalem Ecke Berlin“

Tom Segev:

Jerusalem Ecke Berlin

Tom Segev, einer der bekanntesten israelischen Journalisten und Historiker, 1945 drei Jahre vor Gründung des Staates Israel in Jerusalem geboren, erzählt Geschichten seines Lebens. Es ist wohltuend, dass er nicht mit großer Geste ewige Wahrheiten verkündet oder sich selbst ein Denkmal setzen will, wie das manche bedeutende Persönlichkeiten in ihren Memoiren tun. Sondern Segev teilt Erinnerungen an Begegnungen mit Menschen, die sein Leben geprägt haben. Nebenbei erfährt man vieles über die Geschichte Israels, an der er als aufmerksamer und sensibler Beobachter teilgenommen hat.

Prägend für Segevs Biografie ist die Einwanderungsgeschichte seiner Eltern, beide Bauhausschüler, die vor den Nazis nach Palästina flohen, weil sie keine Alternative hatten. Der Vater stirbt schon 1948. Die Mutter, Nichtjüdin, bleibt trotz anderen Ideen ihr Leben lang in Israel wohnen, „fremdelt“ aber mit Land und Sprache. Es ist interessant zu sehen, wie Segev die Erinnerungen seiner Mutter, aber auch seine eigenen Erinnerungen immer wieder infrage stellt und auch die bleibenden Zweifel an der Darstellung des Todes seines Vaters als Held im Unabhängigkeitskrieg offen benennt. Seine Haltung gegenüber den Palästinensern wird durch einen Freund der Familie, den Journalisten David Stern, beeinflusst. Der geht mit dem vierjährigen Tom an der Teilungsgrenze in Jerusalem entlang: „Diese Grenze ist keine Linie, die zwischen guten Menschen und bösen Menschen trennt. Auch auf der anderen Seite gibt es gute Menschen.“ Diese zutiefst humane Einstellung durchzieht die Erinnerungen, egal welchen Menschen er begegnet.

Und es sind viele Menschen, denen Segev begegnet. Darunter sind zahlreiche internationale Prominente, Regierungschefs und Minister, Wissenschaftler, auch NS-Täter. Mindestens so viel Raum nehmen aber die Begegnungen mit einfachen Menschen ein, etwa einem drogensüchtigen Palästinenser, der immer wieder in Schwierigkeiten gerät und es versteht, Segev für sich einzunehmen.

Anrührend ist auch die Familiengeschichte am Ende des Buches: Eigentlich ist Segev nur als Journalist mit einer Delegation nach Äthiopien gereist, um über die Ausreise bedrohter äthiopischer Juden zu berichten. Dabei lernt er den Jungen Itayu kennen, woraus sich letztlich eine Vater-Sohn-Beziehung entwickelt. So wird der unverheiratete und kinderlose Segev doch noch Vater und Opa.

Der letzte Satz des Buches, den der viellesende Enkel Ben unvermittelt spricht, sei hier verraten, ohne zu spoilern: „Opa, weißt du, ich habe Worte furchtbar gern.“ – „Ich auch“, stimmt Opa Tom zu. Wohl im Sinne aller Freund*innen der Bücher-Heimat.

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Tom Segev: Jerusalem Ecke Berlin. Erinnerungen, Siedler Verlag 2022, 411 Seiten, ISBN 9783827501523, 32,00 Euro.

Markus Weber über „Der erste Zug nach Berlin“

Markus Weber über „Der erste Zug nach Berlin“

Gabriele Tergit:

Der erste Zug nach Berlin

„Als das Flugzeug sich in Bewegung setzte und ich den guten alten friedlichen Kontinent verließ, um ins wilde, unkultivierte Europa zu fahren, da war mir doch sehr anders…“ Mit dieser Einstellung bricht die junge US-Amerikanerin Maud aus der High Society nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer Kommission nach Deutschland auf.

Gabriele Tergit beschreibt die Erkundung Deutschlands in ihrem Roman sprachlich leichtfüßig, aber mit einem scharfen Blick für die historische Wirklichkeit noch vor der Gründung der beiden deutschen Staaten. Gerade die Naivität ihrer Protagonistin, aber auch deren Abenteuerlust und offene Augen, entlarven die Sichtweisen sowohl der Sieger als auch der Besiegten.

So werden die Gegensätze zwischen dem Reichtum weniger und dem Elend der Massen ebenso deutlich wie der Wiederaufstieg ehemaliger Nazis und der Profiteure der Nazi-Herrschaft. Letztlich wird ein sehr skeptisches Bild der deutschen Nachkriegsgesellschaft gezeichnet, in dem nationalistisches, rassistisches und antisemitisches Denken unausrottbar zu sein scheint.

Der einzige deutsche Journalist, dem Maud begegnet und der wegen seiner Widerständigkeit viele Jahre im KZ verbrachte, lebt und stirbt in menschenunwürdigen Verhältnissen. Dabei kommt der Text nicht bitter daher, sondern in einer gekonnten „Mischung aus Satire, schwarzem Humor und aufgeregten, oft heftigen Gesprächen“, wie Nicole Henneberg in ihrem erläuternden Nachwort schreibt.

Ein auffälliges Stilmittel des Romans ist, dass in den Dialogen einzelne Wörter, Sätze oder kleinere Absätze auf Englisch geschrieben sind, so wie es im Originalmanuskript der Autorin vorgesehen ist. So wird die Fremdheit der Erkundungskommission verdeutlicht, zudem spiegelt sich die Wirklichkeit der im Exil lebenden Deutschen, zu denen Gabriele Tergit ja seit 1933 gehörte. Im Anhang kann man bei Bedarf die deutsche Übersetzung nachlesen.

Die Romane der Journalistin und Schriftstellerin Gabriele Tergit (1894 – 1984) sind immer wieder neu entdeckt und aufgelegt worden. Völlig zu Recht, wie auch dieses Buch beweist.

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Gabriele Tergit: „Der erste Zug nach Berlin“, Roman, Verlag Schöffling & Co, 208 Seiten, ISBN 978-3895614750, Preis: 22,00 Euro.

Markus Weber über „Ombra“

Markus Weber über „Ombra“

Hanns-Josef Ortheil: Ombra

„Das zweite Leben ist eine komplett neue Erfahrung,“ so heißt es in einem neuen Buch von Hanns-Josef Ortheil. Viele seiner Bücher sind autobiografisch gefärbt. „Ombra“ (= Schatten) lässt den Leser noch direkter am Leben des Autors und seinem Kampf, wieder zurück ins Leben zu kommen, teilhaben.

Nach einer schweren Herzoperation, nach der er längere Zeit zwischen Tod und Leben schwebte, ist vieles infrage gestellt. Auch weil er grundlegende Fähigkeiten, die sein Leben bisher ausgemacht haben – wie das Schreiben und das Klavierspielen – verloren hat.

So zwingt ihn diese Situation, genau hinzuschauen: auf Kindheitstraumata, auf seinen Körper, insgesamt auf bisher Verdrängtes oder nur unzureichend Wahrgenommenes. Dabei helfen ihm die körperlichen Übungen in der Rehaklinik ebenso wie intensive Gespräche mit der Psychologin oder einem alten Freund ebenso wie Erkundungen der Orte seiner Kindheit.

Als Leser ist man dabei, auch bei den kontroversen Gesprächen Ortheils mit seinen verstorbenen Eltern und Sigmund Freud, die nicht esoterisch wirken, sondern sich organisch einfügen. So werden seine „Lebensgeister“ aktiviert.

Ich fand diese Suche nach dem, was im eigenen Leben wichtig ist, intensiv und anregend. „Vergiss aber nicht, das zweite Leben auch wirklich zu leben,“ schreibt Ortheil für sich selbst. Für mich als Leser bleibt: Auch das erste Leben will bewusst gelebt werden.

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Hanns-Josef Ortheil: Ombra. Roman einer Wiedergeburt, btb Taschenbuch 2022, 297 Seiten, ISBN 978-3442772698, Preis: 14,00 Euro

Markus Weber über „Nachtlichter“

Markus Weber über „Nachtlichter“

Amy Liptrot:

Nachtlichter

In „Nachtlichter“ verbinden sich wunderbare Naturbeschreibungen der vor Schottland gelegenen Orkney-Inseln mit dem Ringen der Autorin um die Befreiung von ihrer Alkoholsucht. Mit 18 Jahren wollte Amy Liptrot der Inselwelt entfliehen und suchte im Großstadtleben Londons neue Erfahrungen und Freiheit. Sie fühlte sich wild und lebendig.

Doch schließlich landete sie mit etwa 30 Jahren in Arbeitslosigkeit, wurde verlassen von ihrem Freund. Alle Versuche, mit Alkoholexzessen ihrem Jammer und ihren Ängsten zu entkommen, scheiterten. Nach einer überstandenen Entziehungskur kehrt sie für einige Zeit zurück auf die Orkneys. Im Erkunden der Inseln, der Tier-, vor allem der Vogelwelt, der Geologie, des nächtlichen Himmels und des Meeres, erkennt Amy sich selbst Stück für Stück neu.

Es bleibt jedoch immer ein Ringen mit der Sucht. „Seit ich trocken wurde, fühle ich mich mitunter überrascht und beglückt vom ganz normalen Leben. … Das Leben kann größer und reicher sein, als ich gedacht habe.“

Das Schöne an Büchern ist ja auch, dass man in fremde und faszinierende Welten eintauchen und diese gemeinsam mit den Autoren entdecken kann. Zur Erkundung der Orte kann man dorthin fahren, man muss es aber nicht unbedingt, sondern man kann den kalten Wind der Orkneys auch im warmen Zuhause spüren. Wunderbar.

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Amy Liptrot: Nachtlichter, btb Verlag 2019, 352 Seiten, ISBN 978-3442718412, Preis: 10,00 Euro

Markus Weber über „Jaffa und Fatima. Schalom, Salaam“

Markus Weber über „Jaffa und Fatima. Schalom, Salaam“

Fawzia Gilani-Williams:

Jaffa und Fatima. Schalom, Salaam

Die Autorin Fawzia Gilani-Williams erzählt in diesem Bilderbuch eine alte Geschichte mit jüdischen und arabischen Wurzeln nach. Die beiden Freundinnen Jaffa und Fatima haben benachbarte Dattelplantagen und leben in ihren eigenen religiösen Traditionen. Jaffa feiert die jüdischen Feste und Riten, Fatima die muslimischen. Die Unterschiede stehen ihrer Freundschaft nicht im Wege.

In einer Notsituation helfen die beiden einander und sorgen sich um das Wohl der anderen. So ist diese kleine Geschichte ein Plädoyer für Mitmenschlichkeit und Toleranz, freundlich illustriert von Chiara Fedele.

Empfohlen wird das Buch ab einem Alter von vier Jahren. Doch die einfache Botschaft des friedlichen Zusammenlebens – für Schalom und Salaam – ist in unserer friedlosen Welt auch für Erwachsene aktuell.

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 „Jaffa und Fatima. Schalom, Salaam“. Erzählt von Fawzia Gilani-Williams, illustriert von Chiara Fedele, Ariella Verlag 2018, 32 Seiten, ISBN 978-3945530207, Preis: 12,95 Euro.

Markus Weber über „Als die Demokratie starb“

Markus Weber über „Als die Demokratie starb“

Thomas Weber (Hrsg.):

Als die Demokratie starb

Der in Aberdeen (Schottland) lehrende Historiker Thomas Weber (nicht verwandt und verschwägert 😉) hat zum 90. Jahrestag der Machtübertragung an Hitler einen Sammelband mit 16 sehr unterschiedlichen Beiträgen verschiedener Autor*innen herausgegeben. Die Beiträge eint, dass sie einerseits historischen Fragestellungen zur Ermöglichung der NS-Diktatur nachgehen, andererseits den Anspruch haben, die heutige Abwehr antidemokratischer Kräfte zu stärken. So ist das Buch wohl nicht vorrangig an die Fachwelt gerichtet, sondern auf eine breite Wahrnehmung aus.

Die Fragestellungen der internationalen Autor*innen reichen von der Frage, wie die Machtübertragung an Hitler geschehen konnte, welche Kräfte diese getragen haben und wie nach dem 30. Januar 1933 die Macht gesichert wurde. Beispielsweise wird die (neue) Rolle von Wahlen und Abstimmungen in der Diktatur untersucht. Wichtig ist aber auch der Blick in andere Länder, die ebenso unter der Weltwirtschaftskrise gelitten hatten – USA und Niederlande beispielsweise, die aber demokratisch blieben trotz ähnlich großer Herausforderungen.

Die Beiträge scheuen dabei keine Vergleiche zu heutigen Entwicklungen, ohne jedoch gleichzusetzen. So wird etwa gefragt, ob der Sender Fox News in den USA und die sozialen Medien weltweit heute die Funktionen übernommen haben, die die Bierkeller in der Weimarer Republik hatten, nämlich Feindbilder zu erzeugen oder Fake News zu verbreiten, um die antidemokratische Rechte aufzubauen. So werden auch Donald Trumps Politik und heutige Vorstellungen und Praxis „illiberaler Demokratie“ (die keine ist, da Freiheiten und Menschenrechte für alle fehlen) mit dem Nationalsozialismus verglichen . Gefordert wird in einem Beitrag auch, dass Museen und Gedenkstätten klarer „Kante zeigen“ müssten „gegen rechts“. Hier wie an anderen Stellen hätte ich mir differenziertere Sichtweisen gewünscht, auch wenn in diesem Fall die persönliche Betroffenheit des Autors verständlich und grundsätzlich eine klare Positionierung wünschenswert ist.

Anliegen und Erkenntnis, formuliert von Michael Ignatieff: „Die Zukunft der Demokratie ist nicht gesichert, wir halten sie selbst in der Hand“, sind heute wichtig und sollten von allen geteilt werden.

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Thomas Weber (Hrsg.): Als die Demokratie starb. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten – Geschichte und Gegenwart, Herder 2022, 256 Seiten, ISBN 978-3451393976, Preis: 22,00 Euro.

Markus Weber über „Ein Krieg, der keiner sein sollte“

Markus Weber über „Ein Krieg, der keiner sein sollte“

Krzysztof Pilawski/Holger Politt:

Ein Krieg, der keiner sein sollte

Die beiden Autoren bieten Sichtweisen auf den Ukrainekrieg an, die wir sonst in Deutschland häufig nicht zur Kenntnis nehmen. So unterscheidet sich schon aus historischen Gründen der Blick in Polen und den baltischen Staaten auf Moskau und Kiew klar von der deutschen Perspektive.

Krzysztof Pilawski hat in Kiew studiert und war lange Korrespondent einer polnischen Zeitung in Moskau, Holger Politt lebt und arbeitet seit vielen in Warschau; vor diesem Hintergrund eröffnen beide Fragen und Erkenntnisse, die die Diskussion über den Ukrainekrieg gewinnbringend erweitern können. Der Band vereinigt neue und ältere Beiträge, die längerfristige Entwicklungen verdeutlichen.

Grundsätzlich positionieren sich beide Autoren eindeutig: Eine Rechtfertigung für den brutalen, von Putin angeordneten Überfall auf die Ukraine gibt es nicht. Die Autoren zeigen in verschiedenen Annäherungen, aus welchen Traditionen und welcher Geisteshaltung der Befehl zum Überfall stammt, und kritisieren das zugrunde liegende imperialistische Großmachtdenken. Brüche und Kontinuitäten der russischen und sowjetischen Geschichte werden markiert.

Ein besonderes Augenmerk liegt darüber hinaus auf den Entwicklungen der baltischen Staaten und Polens im Verhältnis zur Sowjetunion bzw. zu Russland, eng verflochten mit deren Kampf um das nationale Recht auf Selbstbestimmung in den letzten 200 Jahren. Betont wird, dass weder die baltischen Staaten noch Polen nach der Wende 1990/91 territoriale Ansprüche gegenüber Russland erhoben haben – im Gegensatz zu Putins Russland. Zudem wird die Problematik der russischen Minderheiten in den baltischen Staaten in ihrer Bedeutung für die aktuellen Konflikte aufgezeigt.

Auch dann, wenn man nicht allen Beurteilungen zustimmt, fordert das Buch heraus zur Prüfung eigener Einschätzungen.

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Krzysztof Pilawski/Holger Politt: Ein Krieg, der keiner sein sollte. Russlands Überfall auf die Ukraine aus Sicht unmittelbarer Nachbarn, VSA Verlag Hamburg 2022, ISBN 978-3964881717, 172 Seiten, Preis: 16,80 Euro.

Auf Einladung der pax christi-Gruppe Nordharz wird Holger Politt, einer der beiden Autoren, am 8. März 2023 in der Bücher-Heimat zum Thema des Buches sprechen.

Markus Weber über „Bruno Fabeyer – ,Waldmensch‘ und ,Moormörder'“

Markus Weber über „Bruno Fabeyer – ,Waldmensch‘ und ,Moormörder'“

Christof Haverkamp:

Bruno Fabeyer – „Waldmensch“ und „Moormörder“

„Bruno Fabeyer“, das ist ein Name, der in meiner Kindheit im Osnabrücker Land Angst und Schrecken verbreitete. Der Journalist und Historiker Christof Haverkamp erzählt die Geschichte der Verbrechen Fabeyers und seiner langen Fluchtgeschichte auf Grundlage einer genauen Recherche in Medien und amtlichen Unterlagen sehr detailliert und nüchtern. Als jemand, der in der Nähe von Osnabrück aufgewachsen ist, kommen mir viele Ortsnamen, die sich im Text und auf einer Karte im Umschlag finden, bekannt vor.

Aber ist das Buch auch für Leser*innen interessant, die keinen regionalen Bezug zur Geschichte Fabeyers haben? Ich finde schon, denn über den konkreten Fall hinaus wird Zeittypisches und Menschliches deutlich. So zeigt sich, dass die Polizei mit ihren Fahndungsmethoden – trotz ihres Einsatzes von Hundertschaften, Hunden und Hubschraubern – nur unzulänglich arbeitete. Nicht zuletzt fehlten technische Voraussetzungen für einen Erfolg. Erst recht versagte die Zusammenarbeit über Bundesländergrenzen hinweg, als Bruno Fabeyer seinen Wirkungskreis über Niedersachsen hinaus ausweitete.

Der Autor erzählt auch die Vorgeschichte Fabeyers mit seiner schwierigen Kindheit in prekären Verhältnissen und mit Heimaufenthalten in der NS-Zeit, die trotz der Gewaltverbrechen Fabeyers dazu angetan waren, teilweise Mitleid bei den Zeitgenossen zu erwecken. Schließlich zeigt sich auch, wie wenig das verbreitete Rechtsempfinden in der frühen Bundesrepublik (heutigen) rechtsstaatlichen Standards entsprach. Eine Zeitung schrieb etwa: „Das Fallbeil des Henkers ist in der Bundesrepublik außer Dienst, sonst würde man Bruno Fabeyer – hätte man ihn – gewiss aufs Schafott schicken, wie 1942 seinen wegen Fahnenflucht verurteilten Bruder Fritz.“ Und immer wieder forderten Zeitungen die Bevölkerung zur Mithilfe auf, Fabeyer „zur Strecke zu bringen“. Das Buch ist insofern auch ein Beitrag zur Gesellschaft in den 1960er Jahren.

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Christof Haverkamp: „Bruno Fabeyer »Waldmensch« und »Moormörder«“. Eine reale Kriminalgeschichte, Edition Temmen 2022, 131 Seiten, ISBN 9783837840711, Preis: 17,90 Euro.

Markus Weber über das Buch „Lotte Lenya und Bertolt Brecht“

Markus Weber über das Buch „Lotte Lenya und Bertolt Brecht“

Jürgen Hillesheim:

Lotte Lenya und Bertolt Brecht

Der Leiter der Brecht-Forschungsstelle in Augsburg, Jürgen Hillesheim, hat eine interessante und gut lesbare Doppelbiografie zweier einzigartiger Persönlichkeiten des Kulturlebens im 20. Jahrhundert vorgelegt. Der Autor verfolgt deren Lebensweg von ihrer Kindheit in Wien bzw. Augsburg bis zu ihrem Tod. Immer wieder begegnen sich beide im Laufe ihres Künstlerlebens, das einerseits von Konkurrenz geprägt ist, doch andererseits ist der Erfolg beider voneinander abhängig: „Nichts repräsentiert … die ‚Goldenen Zwanziger Jahre‘ besser und eindringlicher als diese Zusammenarbeit; trotz aller Bitterkeit, die sie von Anfang an bestimmte,“ schreibt Hillesheim resümierend.

Wir lernen beide in ihren privaten Umfeldern in einer Zeit des Wandels kennen, teils – wie bei Lotte Lenya – geprägt durch Armut und Gewalt in der Kindheit. Auch zahlreiche Liebschaften beider durchziehen deren Biografien. Und wir können das Leben über den Erfolg in der Weimarer Republik, die schwierigen und bedrohlichen Zeiten des Exils während der nationalsozialistischen Diktatur bis in die Nachkriegszeit verfolgen: Lotte Lenya, die sich für ein Leben in den USA entscheidet und Erfolge feiert, und Bert Brecht, der in der DDR sein eigenes Theater aufbauen kann. Gleichzeitig begegnen wir vielen weiteren bedeutenden Persönlichkeiten, die das Leben der beiden gekreuzt haben.

Die Widersprüchlichkeit der Protagonisten wird keineswegs ausgespart. So ließ die SED am Grab von Bert Brecht, der trotz seines zeitweise opportunistischen Verhaltens gegenüber der Politik zeitlebens seine pazifistische Grundhaltung bewahrt hat, Soldaten der Nationalen Volksarmee Spalier stehen – wie immer Brecht darüber gedacht hätte.

Wer spannende Entwicklungen im Kulturleben des 20. Jahrhunderts erlesen möchte, kann mit Gewinn zu diesem Buch greifen.

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Jürgen Hillesheim: „Lotte Lenya und Bertolt Brecht. Das wilde Leben zweier Aufsteiger“, Verlag: wbg Theiss 2022, ISBN 978-3806245356, 304 Seiten, Preis: 25,00 Euro.

Markus Weber über „Klassenfoto mit Massenmörder“

Markus Weber über „Klassenfoto mit Massenmörder“

Jürgen Gückel:

Klassenfoto mit Massenmörder

Der Journalist Jürgen Gückel hat ein in mehrfacher Hinsicht beeindruckendes Buch vorgelegt. Ausgangspunkt des Buches ist ein Klassenfoto seiner ersten Volksschulklasse in Steterdorf bei Peine mit dem Lehrer Artur Wilke, dessen wahre Identität sich erst später herausstellen sollte.

Da Gückel bei der Beschäftigung mit seinem Lehrer merkt, dass weder den eigenen Erinnerungen noch den Erzählungen im Dorf zu trauen ist, beginnt er eine außergewöhnlich akribische Spurensuche in Archiven, so durchforscht Gückel u.a. zehntausende Seiten Gerichtsakten, um Artur Wilke auf die Spur zu kommen. Geschickt verbindet der Autor die verschiedenen zeitlichen Ebenen, sodass die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart bewusst wird. So wird aus der Spurensuche nicht nur ein Buch über einen Täter, der für grauenhafte Verbrechen im Zweiten Weltkrieg verantwortlich zeichnet, aber bis zum Schluss seine eigene Verantwortung leugnet. Auch die Opfer nehmen Gestalt an – Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung, Auslöschung ganzer Dörfer mitsamt aller Einwohner. Gleichzeitig ist es eine Geschichte des Verschweigens in der deutschen Nachkriegsgesellschaft und des Versagens der Justiz. Umso bedeutsamer ist es, dass gelegentlich auch die wichtige Erinnerungsarbeit durchscheint.

Trotz der guten Lesbarkeit des Buches musste ich immer wieder Pausen einlegen, um die Ungeheuerlichkeiten der dokumentierten Verbrechen auszuhalten. Gerade angesichts des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine lohnt es, sich dieses Buch zuzumuten.

Jürgen Gückel: „Klassenfoto mit Massenmörder. Das Doppelleben des Artur Wilke“, Vandenhoeck und Ruprecht 2. Aufl. 2020, 295 Seiten, ISBN 978-3525311141, Preis: 25,00 Euro.

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