Dieser Roman ist nichts für schwache Nerven – spielt doch brutale Gewalt die eigentliche Hauptrolle.
Erik erfährt zuhause täglich körperliche Gewalt von seinem Vater, und lernt so, dass Autorität nur durch Gewalt erhalten bleibt. Als Anführer einer Jugendbande verschafft er sich mit den Fäusten Respekt und treibt die Bande zu immer neuen kriminellen Untaten.
Als er eines Tages zu weit geht und von der Schule verwiesen wird, kommt er in das Internat Stjärnberg, einer Eliteschule in der Nähe von Stockholm, aber kein Hort der Friedfertigkeit. Der „Rat“ sadistischer Primaner quält und erniedrigt die jüngeren Schüler grausam und ohne Gnade.
Es klingt kaum möglich, aber genau diese Grausamkeit bringt Erik dazu, die Gewalttätigkeiten hinter sich zu lassen. Er erkennt, dass die Fäuste ihn im Leben nicht weiterbringen, sondern nur der Verstand. Er will immerhin Rechtsanwalt werden, er will das Schulsystem verändern, dafür braucht er das Abitur.
Was sich nach einem rosaroten Happy End anhört, ist in Wirklichkeit die Erkenntnis, dass auch der Verstand eine grausame Waffe sein kann, die Erik ein letztes Mal anwendet, als er nach seinem erfolgreichen Abschluss noch einmal nach Hause fährt…
Ein intensives Buch, beinahe kühl und distanziert erzählt, wirkt es noch lange nach!
Den meisten von uns wird beim Stichwort „Titanic“ nicht nur das Schicksal des „unsinkbaren“ Schiffes vor Augen stehen, sondern auch die Geschichte von Rose und Jack, in der das Salonorchester an Bord nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Das ist bei Erik Fosnes Hansen ganz anders. Hier stehen die Musiker der Schiffskapelle im Zentrum der Aufmerksamkeit, die zum Teil ganz zufällig diese Reise mitmachen.
Die Lebensreisen von vier Musikern erzählt Hansen parallel zur Reise des Ozeanriesen. Jede ist komplett anders als die anderen und doch haben sie etwas gemeinsam. Als Leserin hatte ich das Gefühl, dass jede Geschichte genau hierhinführt – auf die Titanic und damit an ihr Ende. Wir wissen, wie es mit dem Schiff weitergeht und wohin die Reise führt, wir wissen, was den Orchestermitgliedern widerfahren wird.
Das macht dieses Buch zu etwas Besonderem, gelingt es dem Autor doch einfühlsam, emotional und folgerichtig die Geschehnisse zu ordnen, durchaus spannend und tief, aber ohne dramatisch zu werden oder ins Chaotisch-Panische abzurutschen.
Ich habe dieses Buch mit großer Freude gelesen, Freude an der Sprache und Freude an der Komposition der Geschichten.
Unbedingt empfehlenswert – auch und besonders für Titanic-Fans!
„Obwohl Kantika ein Roman ist, habe ich mit der Grenze zwischen Fakt und Fiktion gespielt und mich auf die Erfahrungen realer Personen gestützt, vor allem meiner Großmutter mütterlicherseits, Rebecca Baruch Levy, geborene Cohen (1902 – 1991)…“ Elizabeth Graver
Rebeccas Vorfahren flohen mehr als 400 Jahre zuvor aus einem zunehmend antisemitischen Spanien in die Türkei und lebten lange in einer multikulturellen Gesellschaft in relativer Akzeptanz. Sie wird 1902 in Konstantinopel geboren und erlebt eine glückliche Kindheit, bis im November 1914 ihre katholisch-französische Schule geschlossen und das gesellschaftliche Klima für Juden zunehmend schwierig wird.
Deshalb und um die Brüder vor dem Militärdienst zu bewahren, flieht die Kernfamilie 1924 nach Spanien, eine von vielen Verlusterfahrungen der Protagonistin. Das Land ist ihnen seltsam fremd und sie leben dort ein eher bescheidenes Leben. Doch bald wird auch hier das Klima rauer.
Unter Frankos Herrschaft blüht der Antisemitismus wieder auf und so ergreift Rebecca 1934 die Gelegenheit, aus Spanien zu fliehen, zunächst allein, ohne ihre Familie. Über Kuba gelangt sie schließlich nach New York und beginnt dort noch einmal, sich ein neues Leben aufzubauen. Mit Zuversicht, Fleiß und ihrer Freude am Singen und Gärtnern.
Elizabeth Graver erzählt die Geschichte dieser außergewöhnlichen, starken und mutigen Frau und ihrer Familie sehr einfühlsam, detailreich und voller Liebe zu den Figuren. Wie selbstverständlich erzählt sie auch von deren Glauben und Ritualen, von Anfeindungen und Zurückweisungen, ohne Wertung oder gar Bitterkeit.
Ihre Worte und Sätze zeugen von einer großen und verständnisvollen Menschenkenntnis. Gravers kenntnisreiche Einbettung der Familiengeschichte in historische Geschehnisse und Entwicklungen machen das Buch auch zu einem interessanten historischen Roman, der aber immer ganz nah an seinen Figuren bleibt.
Alle Höhen und Tiefen menschlichen Lebens, alle Facetten von Charakteren und Empfindlichkeiten, alle Folgen beängstigender, enttäuschender oder gar traumatischer Erlebnisse fasst die Autorin in dieser Familiengeschichte zusammen und schafft so einen wunderbaren Roman, den ich immer schwerer aus der Hand legen konnte.
Zu Beginn des Jahres 2025 möchte ich Ihnen meine erstaunlichste Entdeckung des Jahres 2024 vorstellen. Ein „Indianerbuch“, aber nicht aus dem 18. oder 19. Jahrhundert, diese Geschichte spielt in Minneapolis im 21. Jahrhundert. Die Ich-Erzählerin Tookie erlebt ihr Jahr der Wunder 2020, nicht trotz, sondern gerade auch wegen der Einschränkungen durch die Pandemie.
Die Autorin betreibt in Minneapolis eine Buchhandlung mit dem Schwerpunkt auf „Indigenen Autoren“, denen sie mehr Aufmerksamkeit wünscht, ist sie doch selbst Ojibwe Native. In so einer Buchhandlung arbeitet auch Tookie, ebenfalls mit indigenen Wurzeln, und erlebt dort wundersames, erschreckendes und doch auch wunderbares. Als ihre große und Halt gebende Liebe Pollux lebensgefährlich an Covid-19 erkrankt, muss sie sich ihrer Vergangenheit stellen, ihrer eigenen Wurzellosigkeit und ihrer Abstammung.
Dieses Buch ist nur schwer einzuordnen. Es ist ein Buch über das Lesen, über Buchhandlungen, über Familie und Traditionen, über Aktuelles und Wurzeln. Die klugen Gedanken fasst Louise Erdrich in einer beinahe leichten Sprache. Der Text liest sich flüssig und beinahe nüchtern. Die Geschichte ist erschreckend, herzzerreißend, traurig, heiter, aktuell und bezaubernd.
Ich habe viel gelernt über „native americans“ in der heutigen Gesellschaft der USA. Wie sie heute leben, wie sie noch immer ihre Stammeszugehörigkeit pflegen, ihre Rituale abhalten und die Unsichtbarkeit in der weißen Bevölkerung ertragen.
Das Ende bleibt offen, fragile Gleichgewichte, ungelöste Fragen lassen den Leser weiterdenken. Die Bücherliste im Anhang zeigt, wie lebenswichtig Lesen sein kann.
„The Sentence“ – „Das Urteil“ ist der Originaltitel und bezieht sich auf Tookies Gerichtsurteil: 60 Jahre Haft!
Der Planet Gora besteht aus Steinen und Staub und hat kein eigenes Leben hervorgebracht. Hier landen Raumfahrer nur, um die Wartezeit bis zur Freigabe ihres Weiterfluges zu verbringen, denn Gora liegt an einem interstellaren Verkehrsknotenpunkt. Hier betreiben Ouloo und Tupo ein „Etablissement“ – so steht es über dem Eingang – und haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den Aufenthalt dort so angenehm wie möglich zu gestalten.
Als das Satellitensystem des Planeten ausfällt, stranden drei Reisende bei „den besten Gastgebern des Universums“, drei verschiedene Spezies, die glauben, die jeweils anderen zu kennen. Fünf Tage lang müssen sie zusammen aushalten und in dieser Zeit werden (Vor-)urteile revidiert – sind Geduld und Toleranz gefordert.
Was sich wie ein langweiliger Plot anhört, ist bei Becky Chambers Roman „Die Galaxie und das Licht darin“ – ausgezeichnet mit dem Kurd Laßwitz Preis 2023 – ein fantasievolles und spannendes Kammerspiel, zugleich aber auch weise und tiefsinnig. In gewohnt bezaubernder Weise beschreibt die Autorin ihre außergewöhnlichen und absolut unterschiedlichen Charaktere, deren jeweiligen Gesellschaften und das Bemühen sich zu verstehen und Nutzen für die persönliche Entwicklung aus der Unterschiedlichkeit zu ziehen. Diese fünf Tage werden für alle unvergesslich! Auch für den Leser, der mit Wehmut das Buch zuklappt.
Becky Chambers beschließt damit ihre Reihe aus dem Wayfarer-Universum, was ich sehr schade finde. Jedes Buch hatte immer auch eine Botschaft an uns im Hier und Jetzt. Gemeinsam, positiv und friedlich lassen sich viele Krisen meistern!
Heute möchte ich Ihnen ein Buch empfehlen, das keine Neuerscheinung ist, 1992 erschien es in Norwegen und 1998 in Deutschland. Ich habe es mehrfach meinen Kindern in der Adventszeit vorgelesen, es wurde uns nicht langweilig. Jedes Mal entdeckten wir etwas Neues darin.
Dieses Adventskalenderbuch des bekannten norwegischen Schriftstellers erzählt in 24 Kapiteln zwei Geschichten.
Zum einen, die von Joachim, der unbedingt einen Adventskalender haben möchte. Er sucht mit seinem Vater in der Stadt danach, aber einen Tag vor dem ersten Dezember ist das nicht so einfach. Doch sie haben Glück; in einem kleinen Buchladen steht ein alter, offensichtlich handgemachter Adventskalender, von dem der Buchhändler nur eine Ahnung hat, wie er in seinen Laden gekommen ist.
Die zweite Geschichte beginnt, als Joachim am nächsten Tag das erste Türchen öffnet. Ein Zettel fällt heraus, eng beschrieben mit winzigen Buchstaben und erzählt die Geschichte von Elisabet, die in einem Kaufhaus dem „Glockenlamm“ hinterherläuft und so ihrer Mutter verloren geht.
Hier beginnt eine Pilgerreise, die durch Raum und Zeit bis zurück zu Jesu Geburt in Bethlehem führt. Joachim und später auch seine Eltern verfolgen Elisabets Reise gespannt und versuchen das Geheimnis zu lösen. Der Autor verwebt geschickt beide Geschichten und vermittelt so viel Wissen über historische und religiöse Zusammenhänge und Ereignisse. Aber auch Wertvorstellungen und die wahre Bedeutung von Weihnachten – Liebe und Frieden, Teilen und Schenken – zeigt Gaarder in gewohnt unaufdringlicher Art auf.
Diese „Krimigeschichte“ ist kindgerecht geschrieben, aber auch interessant und spannend für die Großen. 1948 ist nämlich tatsächlich ein Mädchen in Norwegen verschwunden…
Die kleinen wunderschönen Illustrationen stammen aus der Feder von Rosemary Wells, einer der bekanntesten Kinderbuchillustratorinnen der USA.
Mit einer Altersempfehlung ab 6 Jahren eignet sich dieses Buch zum Vorlesen und zum Selberlesen. Aber immer nur ein Kapitel pro Tag!
Im dritten Band ihrer vierteiligen „Wayfarer“-Reihe stellt Becky Chambers ihre Vorstellung von der Zukunft der Menschheit vor. Anhand verschiedener Charaktere schildert sie das Leben in der „Exodus-Flotte“. Ein Leben, in dem die Gemeinschaft über allem steht, denn nur gemeinsam konnten die Vorfahren der Protagonisten diese Flotte von Wohnschiffen planen und bauen – aus den Trümmern von Hochhäusern, Brücken und Industrieanlagen; aus den Trümmern der Welt, wie wir sie heute kennen.
In einer ersten Fluchtwelle flohen die Menschen, die es sich leisten konnten, von der Erde auf den Mars, um in künstlichen Habitaten als Kolonisten so weiterzuleben wie zuvor auf der Erde.
Erst als die Erde kurz vor dem Kollaps stand, haben sich die letzten Menschen zusammengetan, um mit Wohnschiffen ins Weltall zu fliehen – ohne Ziel, ohne Perspektive! Der Erstkontakt mit anderen intelligenten Spezies hatte noch nicht stattgefunden.
Diese Raumschiffe wurden nicht rein zweckmäßig gebaut, auch das Wohlbefinden seiner Bewohner wurde bedacht. Für die Bedürfnisse des Körpers und der Seele waren sie ebenso ausgelegt wie für die Funktionalität und die Sicherheit. Niemand sollte sich benachteiligt fühlen, keine*r einen Grund für Neid oder Überheblichkeit haben, niemand allein leben, niemand hungern oder dürsten oder frieren. Jede*r sollte sich wohl und sicher fühlen. Friedlich, ohne Gewalt, ohne Waffen, ohne Geld – mit viel Toleranz und Verständnis.
Auch viele Generationen später wird noch immer Tauschhandel betrieben und werden Traditionen gepflegt. Die Exodaner feiern und trauern in Gemeinschaft und fühlen sich füreinander verantwortlich. Ungeliebte Aufgaben werden in einer Lotterie verteilt und jede und jeder muss hin und wieder Reinigungsarbeiten verrichten, gärtnern oder in der Kanalisation arbeiten – und jede*r fügt sich, wenn das Los auf ihn/sie fällt.
Aber natürlich ist es nicht die pure Harmonie, die unter den mehreren Zehntausend Menschen auf einem Schiff, von denen es 37 gibt, herrscht. Die Schilderung des familiären und gesellschaftlichen Alltags ähnelt der heutigen Realität auf verblüffende Art und Weise, von den technischen Möglichkeiten einmal abgesehen. In einer fesselnden Geschichte verwebt die Autorin das Leben vieler Personen miteinander und schafft ein Bild von einer in Veränderung befindlichen Gemeinschaft.
Becky Chambers gelingt wieder eine sehr positive Perspektive für alle Bewohner der GU, auch für die menschlichen. Sehr klug verknüpft sie die heutige reale Gegenwart mit einer fiktiven Zukunft, in der es zumindest einem Teil der Menschheit, ebenso wie vielen anderen intelligenten Spezies, gelungen ist, Egoismus zu überwinden, Konflikte (beinahe) streitfrei zu lösen und die Freiheit des Einzelnen zu gewähren, obwohl oder gerade, weil die Gemeinschaft über allem steht.
Kennen Sie das Spiel „Was wäre wenn…?“ Kinder spielen es gerne. Was wäre, wenn ich eine Prinzessin wäre, ein Ritter, ein Astronaut…?
Wir Erwachsenen fragen uns manchmal, was wäre, wenn ich damals eine andere Entscheidung getroffen hätte, wenn ich doch den anderen Job bekommen hätte. Wie wäre mein Leben dann verlaufen?
Genau das ist das Thema in Eric-Emmanuel Schmitts Buch „Adolf H. – Zwei Leben“. Cover und Titel des Buches verraten bereits, wessen Leben gemeint ist.
Es beginnt mit den Worten: „Adolf Hitler: durchgefallen.“ In Wien im Jahre 1908 beginnt dieser Erzählstrang der hinlänglich bekannten Geschichte Adolf Hitlers, die 1945 mit seinem Selbstmord endet. Obwohl bekannt, liest sie sich spannend und langweilt keinen Moment. Der Fokus auf die Gefühlswelt des Mannes, seine Phobien, seine Selbstüberschätzung und später seinen Realitätsverlust, hat mir noch einige neue Erkenntnisse gebracht. Die stringente, absolut logisch aufgebaute Entwicklung dieser Persönlichkeit hatte für mich aber auch etwas Beunruhigendes und Beängstigendes.
Bereits auf Seite 12 beginnt der zweite Erzählstrang mit den Worten, wir ahnen es bereits: „Adolf H.: bestanden.“ Gleicher Ort, gleiche Zeit, gleiche Protagonisten, andere Entscheidung, ein anderes Leben. Dem Autor gelingt auch hier eine Biografie, die sich an der Gefühlswelt des Protagonisten entlang entwickelt. Immerhin sind diese beiden Männer in diesem Moment – noch – ein und dieselbe Person mit all ihren Ängsten, Beschädigungen und Phobien – besonders der Angst vor nackten Frauen.
Der eine interpretiert das als charakterlichen Vorzug, der andere fällt beim Anblick der weiblichen Aktmodelle in Ohnmacht, bittet seinen langjährigen Arzt um Hilfe, der ihm einen Termin bei Sigmund Freud verschafft. So entwickelt sich dieses „Leben im Konjunktiv“, wie es im Klappentext heißt, in eine völlig andere Richtung und endet erst am 21. Juni 1970 als der erste Mensch – ein Deutscher – den Fuß auf die Mondoberfläche setzt.
Eric-Emmanuel Schmitt zeigt, wie wir durch die Umstände, in denen wir leben, die Erfahrungen, die wir machen, die Menschen, denen wir begegnen zu dem werden, was wir heute sind. Mich hat das Buch überzeugt, auch wenn mir bewusst ist, dass es auch noch ganz anders hätte kommen können. Es liest sich flüssig, ist nie langatmig und regt zum Nachdenken an – „Was wäre, wenn…“. Absolut empfehlenswert!
Dieses Buch hat meine Sicht auf eines meiner anderen Hobbys – neben dem Lesen – in vielfacher Hinsicht verändert.
Ebba D. Drolshagen reist mit uns zunächst auf der Suche nach den Anfängen der Strickgeschichte in die Vergangenheit, nur um festzustellen, dass wir nicht wirklich wissen, wann, wo und wie diese Handarbeitstechnik entstanden ist. Vermutlich stammt sie aus dem arabischen Raum – arbeiten wir deshalb von rechts nach links? – und kam mit den Mauren und Arabern im 8. Jahrhundert nach Spanien.
Sicher ist nur, dass im 13. Jahrhundert in Europa Handstricker-Gilden entstanden, die unglaublich feine und kunstvolle Arbeiten herstellten. Dort arbeiteten nur Männer mit Nadel und Faden und stellten hauptsächlich wunderschöne Seidenstrümpfe her. Kaum zu glauben, dass später von „Armutsstrickerei“ und „Heimarbeit“ die Rede ist. Und ab wann durften eigentlich Frauen stricken?
Wir lesen hier natürlich auch über verschiedene Stricktechniken und Materialien, über die Farben, Muster und, last but not least, die Wertschätzung für die Stücke und ihre Stricker*innen. Eigentlich ziehen wir nur eine Wollschlinge durch eine andere und das immer und immer wieder, aber was daraus entsteht, ist wunderbar.
Zum Beispiel der bekannte Norwegerstern, der in seiner Heimat den schönen Namen „Achtblattrose“ trägt, oder die vielfältigen Muster auf einem Shetlandpulli. Aber auch ein schlichter Schal ist etwas Besonderes, ein Unikat, mit den eigenen Händen hergestellt.
In meiner Jugend war Stricken verpönt, später strickten nur „Ökos“ und dazu wollten wir (noch nicht) gehören. Inzwischen kann Ebba D. Drolshagen von vielen Topdesigner*innen berichten, die diesem Handwerk einen ganz neuen Schub gegeben haben. Sie stellt auch große Plattformen im Internet vor, auf denen schier unendlich viele Menschen ihre Ideen weltweit miteinander teilen und erklärt, warum Strickanleitungen nicht immer kostenlos sind.
Den Auswirkungen des Strickens auf die physische und psychische Gesundheit, die Therapie von Strafgefangenen, Magersüchtigen und „wichtigen Herren mit Managerkrankheit…“, widmet die Autorin tatsächlich ein eigenes Kapitel.
Auch das Thema „Fehler“ hat seinen Platz in diesem Buch. Eine große Designerin regte an, sich von der Idee des Fehlers zu verabschieden und stattdessen von design features zu sprechen. Und das ist nicht die einzige Stelle zum Schmunzeln.
Dieses lehrreiche und unterhaltsame Buch hat mir mehr „Strick-Selbstbewusstsein“ gegeben, mir den Wert meiner Arbeit vor Augen geführt und meine Phantasie und meinen Mut beflügelt, mich an immer anspruchsvollere Handwerksstücke zu wagen.
Für Stricker*innen und alle, die es noch werden wollen, ein absolut empfehlenswertes Buch.
Auch der zweite Band der Wayfarerreihe hat mich wirklich begeistert. Ganz besonders deshalb, weil Becky Chambers nicht einfach noch ein Raumschiffabenteuer geschrieben hat. Dieser Versuchung hat sie zum Glück widerstanden – obwohl es doch beim ersten Mal so erfolgreich war…
In „Zwischen zwei Sternen“ begegnen wir zwei Figuren, die uns aus dem ersten Band schon bekannt sind. Ihre Lebensgeschichten werden in zwei Handlungssträngen abwechselnd erzählt. Da ist zunächst die Modderin Pepper, die auf der Wayfarer Lovelace begegnet, der empfindungsfähigen KI des Raumschiffs. Peppers Geschichte beginnt, als sie 10 Jahre alt ist und Jane 23 heißt. Sie lebt und arbeitet mit vielen anderen Kindern zusammen in einer Fabrik und sortiert, säubert und repariert Schrott jeder Art, sofern das noch möglich ist. Betreut werden die Kinder von „Müttern“, die sie bestrafen, wenn sie schlechtes Benehmen „machen“.
Als sich eines Tages die Möglichkeit zur Flucht bietet, nutzt Pepper/Jane 23 diese Chance, findet sich zwischen Schutthalden wieder, rennt um ihre Freiheit und findet Hilfe aus einer ganz unerwarteten Richtung… Ein Leben in Freiheit, aber auch voll Dreck, Verzweiflung, Hunger und Angst beginnt und dauert viele Jahre!
Lovelace‘ Geschichte beginnt, als sie die Wayfarer mit Peppers Hilfe verlässt und in einen Bodykit „einzieht“ – sie gibt sich selbst den Namen Sidra. Bodykits für KI sind in der Galaktischen Union (GU) streng verboten und es drohen harte Strafen. Das bringt einige Problem mit sich, zumal in Sidra ein Wahrhaftigkeitsprotokoll programmiert ist – Sidra kann nicht lügen.
Außerdem erfahren wir von ihren Problemen mit den eingeschränkten Möglichkeiten eines „Körpers“, der ihre Systeme vor große Probleme stellt und als sie sich tätowieren lässt, kommt es beinahe zum Systemabsturz. Zusammen mit Pepper und deren Freund Blue lebt sie auf der dunklen Seite eines Mondes, auf Port Coriol in einer multispeziären Gesellschaft und gemeinsam finden sie zu einer Lösung ihrer vielfältigen Probleme. Aber: Warum hat jede Spezies einen eigenen Waggon in der Unterwasserbahn?
Wieder erfahren wir viel mehr als nur diese beiden Geschichten. Becky Chambers erweitert unser Wissen um die Gesellschaften in der GU, ihre Entstehung, ihre dunklen Seiten, die Fehler in der Vergangenheit und ihre optimistischen Zukunftsaussichten. Es gibt z. B. ein „Lassen-wir-Planeten-mit-Leben-in-Ruhe-Gesetz“! Genau dafür verehre ich Becky Chambers, sie verliert sich nicht in Schlachtengetümmel, sondern zeichnet eine positive Zukunft, in der der Mensch nicht mehr die dominante Rolle spielt – ein ziemlich beruhigender Ansatz.
Nun brauche ich erst einmal Urlaub vom Weltraum – im nächsten Beitrag möchte ich Ihnen ein Buch über ein anderes meiner Hobbys vorstellen.