Bettina Luis über „Beethovn“

Bettina Luis über „Beethovn“

Albrecht Selge:

Beethovn

Da hatte ich gerade erst die letzte Seite des derzeitigen Bestsellers von Florian ILLIES, ZAUBER DER STILLE, gelesen und das Buch ungern, aber mit einem anerkennenden Lächeln geschlossen. Es hatte mich inhaltlich und stilistisch wirklich für Casper David Friedrich, diesen mir irgendwie Ja und doch nicht richtig bekannten romantischen Maler eingenommen. Endlich eine Biographie, die mich richtig gefesselt hatte!

Noch immer davon „bezaubert“, empfiehlt mir ein Freund  BEETHOVN von ALBRECHT SELGE aus dem Jahr 2020. Also, nach der Malerei nun auf ins Reich der Musik! Beethoven, natürlich kenne ich ihn, habe mich ja durch manche Klavierpartitur gequält. Auch dass er am Ende seines Lebens komplett taub war, weiß doch jeder. Wie auch nicht wenige davon überzeugt sind, dass „höhere Mächte“ ihm seine schon zu Lebzeiten bewunderten Werke auf das Notenblatt „diktiert“ haben sollen. Aber viel mehr wusste ich ehrlich gesagt nicht mehr.

Nach SELGEs Lektüre aber ist alles anders! Mein erster Gedanke: Hat Florian ILLIES diesen Albrecht SELGE gelesen? Hat Illies sich stilistisch und kompositorisch u.U. bewusst an SELGEs kreativen, ebenfalls ganz unkonventionellen und kurzweiligen Biographie- und Sprachstil angelehnt?

Egal, ich habe  wunderbar „erhellende“ Stunden mit BEETHOVN, BEETHOWEN, BETHOFN, BET-OFEN oder „VAN Beethowen“, der so gern ein „VON Beethoven“ gewesen wäre, verbracht! A. SELGE „malt“ kunstvoll in einzelnen Kapiteln detaillierte Bilder des alternden Meisters, seines Alltags und seiner Musik: B. WAR NICHT DA, B. SCHLIEF, B. SCHLUG, B. SCHRIEB, B. BADETE, B. Aß, B.SCHLIEF (wieder) und letztendlich: BEETHOVEN STARB. 

Immer sind da B. nahestehende Mitmenschen, Vertraute, Verstorbene, vor allem jene blinde feministische gute Geistin, die Ahnin und unerreichbare Geliebte verschmelzen lässt. Sie alle schauen aus ihren Augen auf und in Beethovens Familiengeschichte, bedenken jene „unvollendete“ große Liebe, erleben seinen chaotischen Alltag, seine Schaffenskrisen.

Die Unwilligkeiten des Genies, der sich zunehmend aus der Welt zurückzog, zu viel trank und mehr und mehr weigerte, seiner Fangemeinde zu entsprechen, fordern jeden dieser Mitmenschen heraus, sich dieser großen Persönlichkeit gegenüber irgendwie zu verhalten: Egal ob es die schimpfende Haushälterin ist oder der „Wunschsohn“, jener Neffe Karl, den B. als „Möchtegernvater“ durch seinen übergriffigen Erziehungsstil wenig Raum zur Entfaltung schenkt.

A. SELGE überlässt den einzelnen Figuren ihren eigenen Erzählstil, sodass auch wichtige Phasen und Gedanken ihres eigenen Lebens Raum und Sprache finden. Zeiten und Figuren verschwimmen, Chronologie tritt zugunsten spannender Sprünge durch die Geschichte in den Hintergrund.

Und noch etwas ist an BEETHOVN mehr als phantastisch: A. Selges Sprache! Virtuos komponiert er ausladende Langsätze, die unvermittelt in Satzfragmenten enden können und jenseits aller Interpunktionsregel daherkommen. Und wenn ALBRECHT SELGE dann neben philosophischen Kernaussagen B. sagen lässt:  ICH BIN WAS DA IST und gleichzeitig humorvoll die geliebten Vögel, wenn auch ungehört, TICKITICKERN lässt, dann zaubert dieser oft laute BEETHOVN sprachlich herausragend seine ganz eigene zauberhafte Stille.

Albrecht Selge: „Beethovn“, Rowohlt Taschenbuch, 237 Seiten, ISBN 9783499276750, Preis: 12,00 Euro.


Bettina Luis über „Stay away from Gretchen“

Bettina Luis über „Stay away from Gretchen“

Susanne Abel:

Stay away from Gretchen – eine unmögliche Liebe

Dieser spannende und irgendwie leider auch aktuelle Roman hat mich beschämt zurückgelassen!

Tom, ein gefragter, perfekt aufgestellter und erfolgreicher Fernsehjournalist und Nachrichtensprecher arbeitet viel, zu viel. Er hat keine Zeit für ernsthafte Beziehungen, fordert von seinen MitarbeiterInnen absolute Ergebenheit, und Loyalität. Alles steht im Zeichen der persönlichen Karriere, er liebt den Stress internationaler Recherchen, die ihm viel Anerkennung bringen. Toms Mutter GRETA ist eine  verwitwete Seniorin, die ihre Sohn nur noch im täglichen Fernsehen begleitet, ihn dort bewundert, sich mehr Nähe wünscht, dies aber niemals offen aussprechen würde. GRETA/Gretchen wirkt nach außen sehr taff, eloquent und selbstständig. Sie hat es scheinbar nach allen Kriegswirren geschafft, ist beruflich und sozial aufgestiegen, hat eine vorteilhafte Ehe geschlossen und eben diesen wunderbaren TOM, ihren Sohn. TOM weiß und spürte wohl immer, dass seine Mutter emotional unerreichbar schien, sich depressiv verschlossen hielt. Lange und häufige Klinikaufenthalte der Mutter sind die Folge. Dass Kriegstraumata hierfür verantwortlich sein könnten, erscheinen ihm der nachvollziehbare Grund. Nie aber wurde gesprochen, nie wurden Details bekannt.

Dann erkrankt GRETA an Alzheimer Demenz und die Vergangenheit bricht auf. „Sie hat vergessen, dass sie vergessen wollte“, sagt TOM. Zunächst ist er extrem genervt und sieht sich außer Stande GRETA und Job zu vereinbaren. Dann wächst sein Interesse an der eigenen Familiengeschichte zunehmend und als er erfährt, dass er eine farbige Halbschwester hat, erwacht seine Neugier und er beginnt professionell zu recherchieren. Gretas Lebensgeschichte und Toms Gegenwart bewegen sich im Roman heilsam aufeinander zu.

 Am Ende berührt eines in diesem Roman zutiefst: Es gibt sie, die wirkliche, tiefe und „grenzenlose“ Liebe!! Die emotional ehrliche Liebe und Treue, zwischen Liebespaaren, zwischen Generationen, die mutige Liebe von Eltern zu ihren Kindern. Liebe ist langmütig, sie besteht und übersteht viele Krisen, Liebe ist aber auch verletzlich. Wird sie aggressiv zerstört, verstummen Menschen und verdrängen –  vergessen um zu überleben.

Darum bin ich beschämt: Ich gehöre einer durchaus interessierten Nachkriegsgeneration an und der Begriff der TRANSGENERATIONALEN WEITERGABE VON TRAUMATA im Zusammenhang mit den zumeist sprachlosen Kriegs- und Fluchterlebnissen auch meiner Eltern ist mir nicht fremd. Aber welches Leid in der Nachkriegszeit auch noch den farbigen afroamerikanischen GIs im eigenen Land und in dem fremden Besatzungsland (hier Deutschland) zugemutet wurde… welche Dramen sich innerhalb von Beziehungswirklichkeiten abspielten, wenn ihre verbotene Liebe zu weißen deutschen „Gretchens“  lebendige Folgen hatte und welches Leben diese BROWN BABIES erwartete … Ich hatte dies in d e r dramatischen Dimension bisher nicht wirklich als Thema im Blick.

Eben diese Unwissenheit beschämt mich heute, denn die Dramen spielten sich natürlich auch im Umfeld meiner Kindheit ab … Rassismus und Diskriminierung von „Fremden“, Verleumdung, Unterstellung Verachtung von Menschenrechten in  furchtbarsten Sanktionen, sowie staatlich legitimierter Adoptionshandel („Deportation“!) von dunkelhäutigen Kindern in das „Land ihrer Vorfahren“, das ihnen scheinbar die Integration „unter Gleichen“ erleichtern sollte…?! Ungerechtfertigte Entziehung von Sorgerecht, Zwangstrennungen, Sprengung intakter Familiensysteme, weil diese Menschen nicht ins Bild von der heilen Familie der 50/60er Jahre passten. Grausamkeiten, die den ohnehin schon von Krieg, Flucht und Ausgrenzung gezeichneten Opfern ein weiteres Trauma zumuteten.

Unerträgliche Zumutung auch für mich als Leserin? Ja und Nein, denn Susanne Abels Roman liest sich wie die literarische Verfilmung einer Familiensaga, die fasziniert und dank der exzellenten Recherche – bei aller Fiktion – wahre Fakten über die jeweiligen politisch und sozial relevanten historischen Ereignisse liefert. Und so bekomme ich als Leserin der ersten Nachkriegsgeneration immer wieder neue Einsichten in vergleichbare Familiengeschichten. Warum waren die Eltern so, wie sie waren, warum bin ich die, die ich bin… Und es bleibt viel Bewunderung ob der Stärke und Kraft, mit der unsere (Groß)Elterngeneration so viele Beschädigungen aber auch meisterten. Danke, Susanne Abel!

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Susanne Abel: „STAY AWAY FROM GRETCHEN, eine unmögliche Liebe“, dtv 2023, 544 Seiten, ISBN 9783423220149, Preis: 13,00 Euro.


Bettina Luis über „Eine Frage der Chemie“

Bettina Luis über „Eine Frage der Chemie“

Bonnie Garmus:

Eine Frage der Chemie

Frühjahr 1956 – Elizabeth Zott ist eine ausnehmend vielversprechende begabte Chemikerin in einem wissenschaftlichen Institut in Südkalifornien. Elizabeth „brennt“ für die Chemie, ihre Leidenschaft für die Erforschung der CHEMISCHEN EVOLUTIONSTHEORIE (ABIOGENESE) zeigt bemerkenswerte Erfolge. Intelligente starke und zielstrebige Frauen aber erkennt die Männerwelt der damaligen Nachkriegszeit nicht an. So wird Elizabeth in ihrem Tun nicht nur öffentlich degradiert, beleidigt und verachtet, ihre Vorgesetzten, alles Männer, eignen sich wie selbstverständlich ihre Forschungsergebnisse im Sinne der eigenen Karriere an und schrecken angesichts ihres „frechen unverschämten“ Widerstandes auch nicht vor sexuellen Übergriffigkeiten bis hin zur Vergewaltigung zurück, um sie „eindringlich“ ihres Platzes zu verweisen- und der ist maximal im dienenden Bereich eines Sekretariats oder Labors, bestenfalls aber zu Hause am Herd zu besetzen.

Sie trifft den Chemiker Calvin Evans, nominierter Nobelpreisträger und so ganz „anders“ – eben wie sie selbst. Eine vertraute und tiefe – in ihrem Verständnis – „kovalente“ Bindung/Beziehung entsteht: Eine wirklich befreiende Liebe, auf Augenhöhe, im Privaten wie in der Zusammenarbeit lebendig, erfolgreich und gleichberechtigt. Für zu kurze Zeit.

Calvin stirbt durch einen Unfall, Elizabeth ist unehelich schwanger, wird fristlos gekündigt. Mit Hilfe einer Vertrauten erzieht sie ihre Tochter Mad allein und nach ihren Maßstäben einer emanzipierten Mutter – d.h. auch ihr Erziehungsstil ist provokant und unehrenhaft zur damaligen Zeit, was auch die kleine Tochter früh zu spüren bekommt.

Nach weiteren beruflichen Demütigungen als Wissenschaftlerin – in tiefer Sehnsucht trauernd nach der verlorenen Liebe – übernimmt Elizabeth schließlich die Moderation einer täglichen Kochshow in den Anfängen der damals gern „weichspülenden“ Fernsehprogramme. Hier verbindet sich ihr progressives Frauenbild explosiv mit dem gängigen Klischee der frühen 60er, wonach Frauen als minder intelligent gesehen werden, abhängig vom zumeist autoritären „Ernährer“ bleiben sollen und selbstlos die eigenen Interessen zugunsten d e r  „heilen Familie“ zurückzustecken haben.

Elizabeth stört, rüttelt auf, klärt auf, bildet ihr Publikum fort, weckt Interesse nicht nur für Naturwissenschaften und allgemeine Zeitfragen… sie „kocht und brennt “ tatsächlich – innerlich wie äußerlich für die Chancengleichheit von Frauen.

Sie lässt sich auch hier nicht in Rollenklischees drängen, wird wieder „bestraft“, d.h. verachtet, diskreditiert, erlebt sexuelle Bedrohung und Machtmissbrauch – diesmal in der Medienwelt.

Aber sie wird sehr berühmt – und bleibt sich auch jetzt doch immer treu.

So passieren märchenhafte Veränderungen in ihrem Leben, die unerwartete neue Entwicklungen, Entdeckungen, Bewegungen mit sich bringen. „Wahlverwandtschaften“ formen das andere, neue Familienbild. Daran beteiligt sind nicht nur die kluge Mad und andere „aufgeweckte Frauen“, auch einige Männer zeigen sich mutig genug, ihr eigenes Männerbild zu überdenken. Und selbst ein Hund findet menschliche Sprache, beginnt mitzudenken.

Dieser lesenswerte aktuelle Debütroman von BONNIE GARMUS ist bittersüße Lektüre – denn VORSICHT: Wer glaubt, Elizabeth sei ja eine wunderbar vorbildhafte erwachsene Pippi Langstrumpf, deren märchenhafte Stärke, Mut und Kampfbereitschaft man für ein paar nette Lesestunden ganz sorglos (weil längst „abgearbeitet“) genießen dürfe … den belehrt das Leben von Frauen im Hier und Jetzt bekanntermaßen gnadenlos:

März 2023 – PLAN INTERNATIONAL befragt jeweils 1000 Männer und Frauen zwischen 18 und 35 Jahren zum Thema MÄNNLICHKEIT. Ein Ergebnis: 34% geben an, gegenüber Frauen „schon mal handgreiflich zu werden, um ihnen Respekt einzuflößen“. Mehr als 50% der Männer sehen sich als „Ernährer“ der Familie – die Frau soll sich – bitteschön – lieber um Haushalt und Kinder kümmern …!

Und da schwelt leider ja noch viel mehr an biochemischen Reaktionen…

Erinnerungen an die Zukunft!? Bittersüß!

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Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie, Piper Verlag GmbH, 464 Seiten, ISBN 9783492071093, Preis 24,00 Euro.

Eine Zweitmeinung zu Bonnie Garmus Bestseller ist gefragt? Auch Petra Nietsch hat das Buch in den BÜCHER-HEIMAT-Lesetipps besprochen.