Markus Weber über „Den Schmerz der Anderen begreifen“

Markus Weber über „Den Schmerz der Anderen begreifen“

Charlotte Wiedemann:

Den Schmerz der Anderen begreifen

Holocaust und Weltgedächtnis

Die Journalistin Charlotte Wiedemann hat ein engagiertes und gut lesbares Buch über neue Dimensionen der Erinnerungskultur vorgelegt. Sie spannt einen weiten Bogen von der Shoah über afrikanische Menschen, die gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben, aber nie gesehen wurden, über vergessene Völkermorde und verdrängte Kolonialkriege in Asien und Afrika bis hinein in unsere Migrationsgesellschaft und zur Zukunft der Erinnerung. Das mag sich zunächst abstrakt anhören, wird aber durchgehend sehr anschaulich und immer an konkreten Menschen und Beispielen erzählt. An viele Orte, über die sie berichtet, ist sie selbst gereist und lässt uns daran teilhaben.

So gibt die Autorin Denkanstöße, die auch dann nachdenkenswert sind, wenn man ihr an der ein oder anderen Stelle nicht zustimmt. Streitbar sind sicher die Ausführungen zum Holocaust im Zusammenhang mit dem Israel-Palästina-Konflikt, zu Antisemitismus und Israelkritik oder zur Frage der Einzigartigkeit des Holocausts. Aber es sind notwendige Themen, die diskutiert werden müssen und denen man auch in Deutschland nicht ausweichen sollte.

Wichtig ist es Charlotte Wiedemann, Geschichten der Opfer zu recherchieren und deren Namen zu erinnern: „Mit einem Namen angesprochen zu werden, ist eine Grundform der Anerkennung eines Menschen“. Dabei ist es ihr Anliegen, den westlichen Eurozentrismus in der Gedenkkultur aufbrechen und unseren Blick weiten. Ihr Ziel ist Empathie für alle Opfer von Gewaltherrschaften und Völkermorden, auch für Opfer außerhalb unseres Kulturkreises. Eine so verstandene Erinnerungsarbeit ist ein wichtiger Beitrag für eine Kultur der Solidarität. In diesem Sinn gibt es keinen Anlass zur Selbstzufriedenheit, sondern die Notwendigkeit, sich selbst neu infrage zu stellen.

Wer sich für Erinnerungskultur und deren Bedeutung interessiert, erhält mit diesem Buch herausfordernde Anregungen.

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Charlotte Wiedemann: Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis, Propyläen-Verlag 2022, 288 Seiten, ISBN 978-3549100493, Preis: 22,00 Euro

Markus Weber über „Thea Sternheim“

Markus Weber über „Thea Sternheim“

Dorothea Zwirner:

Thea Sternheim

Chronistin der Moderne

Biografie

Die Kunsthistorikerin Dorothea Zwirner zeichnet das Leben einer ungewöhnlichen und faszinierenden Frau nach: Thea Sternheim (1883 – 1971) erlebte nicht nur viele Jahre des 20. Jahrhundert, sondern notierte auch ihre Gedanken und Gefühle in Tagebüchern und bietet uns heute eine besondere Perspektive auf dieses gewaltvolle Jahrhundert. Dorothea Zwirner lässt das Leben Thea Sternheims anschaulich werden.

Mir war Thea Sternheim zum ersten Mal begegnet, weil sie zusammen mit ihrem damaligen Mann, dem berühmten Schriftsteller Carl Sternheim, zu Beginn des Ersten Weltkriegs für einige Monate in Harzburger Hotels wohnte, weil der Krieg sie dazu zwang, ihren Wohnsitz in Belgien zu verlassen. Auch da ist sie mir als genaue Beobachterin der Atmosphäre im Kurort aufgefallen.

In und an Thea Sternheims Leben werden viele Aufbrüche, Widersprüche und Spannungen der Moderne erkennbar. Als Katholikin aus begütertem Fabrikantenhaushalt heiratet sie gegen Widerstände der Familie einen Juden. Gegen grassierenden nationalen Taumel ist und bleibt sie Europäerin und lebt viele Jahre in Frankreich, Belgien und der Schweiz. Während viele Zeitgenossen den modernen Aufbrüchen noch skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, sammelt sie moderne Kunst und hält Kontakte zu berühmten Schriftstellern und Künstlern. Schon 1932 siedelt sie nach Paris um, weil sie das Unheil des Nationalsozialismus ahnt und wird dann doch vom Krieg eingeholt. Bis zum Lebensende ringt sie mit den Herausforderungen, von denen auch die persönliche Familiengeschichte reichlich stellt.

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Dorothea Zwirner: Thea Sternheim. Chronistin der Moderne. Biografie, Wallstein Verlag 2021, 413 Seiten, ISBN 978-3835350601, Preis: 28,00 Euro

Markus Weber über „Im Zwielicht der Zeit“

Markus Weber über „Im Zwielicht der Zeit“

Ellinor Wohlfeil:

Im Zwielicht der Zeit

2019 besuchte Ellinor Wohlfeil Bad Harzburg, um aus ihren Büchern zu lesen und aus ihrem Leben zu erzählen. GZ-Redakteur Holger Schlegel titelte den Bericht über die Veranstaltung: „Die kleine Dame mit der großen Botschaft“. Das trifft auch auf ihre Bücher zu.

1925 als Ellinor Landauer geboren, wuchs sie in Bad Harzburg auf. In dem Roman „Im Zwielicht der Zeit“ beschreibt sie einfühlsam die Geschichte ihrer Familie von 1912 bis 1945, auch wenn die Namen geändert wurden. Sehr bewusst hat sie die Zeit ab 1933 erlebt, wurde sie doch als sogenannte „Halbjüdin“ von den Nazis diffamiert. Das bekam sie auch als Kind in der Schule zu spüren.

Daneben werden die Konflikte in der Familie deutlich, etwa die Auseinandersetzungen mit der Mutter, ob es sich für ein Mädchen aus gutem Hause gehört, einen Beruf zu erlernen. Oder die Belastungen und tiefen Ängste, die sich aus der Verfolgung ihres Vaters als Jude ergaben – die Angst, als er 1938 ins KZ Buchenwald verschleppt wurde und sich schließlich 1943 das Leben nahm. Deutlich wird, wie die traumatischen Erlebnisse ihrer Kindheit das gesamte Leben weiterwirken.

Im April 2022 ist Ellinor Wohlfeil gestorben. Zum Glück bleiben ihre Bücher (nicht nur der hier besprochene Roman), die ein beeindruckendes und authentisches Zeitzeugnis geben.

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Ellinor Wohlfeil: „Im Zwielicht der Zeit“, Verlag 3.0 Zsolt Majsai; Revised Edition 2021, 340 Seiten, ISBN 978-3956673658, Preis: 14,80 Euro.

Markus Weber über „Cartoons“

Markus Weber über „Cartoons“

Dominik Bauer / Elias Hauck: Cartoons

Das Buch mit Sprüchen und Karikaturen des Duos Hauck & Bauer ist schon rein äußerlich schön gemacht mit seinem Leineneinband. Und es liegt gut in der Hand, passt in jede Tasche, sodass man es auch unterwegs genießen kann. Die beiden Autoren veröffentlichen seit Jahren zusammen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, in der Titanic und auf Spiegel-Online. Die hier ausgewählten Text-Bild-Kombinationen bieten ein „Best of“, das im Frankfurter Karikaturen-Museum gezeigt wurde.

Die Bandbreite reicht vom einfachen Geblödel bis zu tiefschürfenden Sätzen, die auch mal zum Nachdenken anregen können, oft aus dem Alltag gegriffen. Jede*r bekommt sein Fett weg – Männer und Frauen, Alte und Junge, Politiker und Spießer, Du und ich.

Ich kann der Empfehlung von Johanna Adorján, Kulturjournalistin bei der Süddeutschen Zeitung, nur zustimmen: „Tut Euch den Gefallen und lest Hauck & Bauer!“ Zumindest, wenn ihr Sinn für Unsinn habt, füge ich hinzu.

Kostprobe gefällig? Hier passend aus dem Bereich der Bücher und des Lesens, auch wenn die Sprüche natürlich erst zusammen mit den Bildern ihre volle Wirkung entfalten:

„Das Buch musst du in der Übersetzung von Harry Rowohlt lesen. Im Original geht da viel verloren.“

Oder:

„Eigentlich hasse ich Autorenlesungen.“ – „Warum machen Sie sie dann?“ – „Ich fürchte, dass die Leute beim Daheimlesen falsch betonen.“

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Dominik Bauer / Elias Hauck: Cartoons, Verlag Kunstmann Antje GmbH 2020, 280 Seiten, ISBN 978-3956143991, Preis:18,00 Euro

Markus Weber – Ins leuchtende Du

Markus Weber – Ins leuchtende Du

Carola Moosbach:

Ins leuchtende Du

Aufstandsgebete und Gottespoesie

Ein wenig unsicher war ich, ob eine solche Buchempfehlung überhaupt auf die Seite der Bücher-Heimat passt. Ich versuche es mal – trotz meiner Bedenken. Das Buch der Juristin und Dichterin Carola Moosbach enthält eine Auswahl von Texten – Gebete und Gedichte – ihrer ersten drei, inzwischen vergriffenen Bücher. Alle Texte haben eine ganz besondere Sprache, die mich direkt anspricht. „Theo-Poesie“ hat die Theologin Dorothee Sölle das genannt.

Da ich die traditionelle liturgische Sprache inzwischen oft zu flach, zu weichgespült und kraftlos finde, bin ich immer wieder auf der Suche nach anderen Texten. Hier habe ich sie gefunden. Da ist nichts glatt; Zweifel, Rachegefühle und Unsicherheiten sind ebenso zugelassen wie Vertrauen, Hoffnung und die Sehnsucht nach erfülltem Leben, doch oft in neuen Bildern, die einem heutigen Lebensgefühl entspringen. Und die gerade deshalb für mich die Kraft der biblischen Psalmen atmen.

Geprägt ist Moosbachs eigener Lebensweg von Gewalt und Missbrauch durch den eigenen Vater, weshalb ihr die oft männlich geprägte Sprache der Liturgie versperrt war. Daraus sind eigene Zugänge entstanden, die nicht nur für Frauen eine Entdeckung sind. Man wird das Buch nicht von vorne nach hinten lesen, sondern hier und da hängen bleiben, mal an einem Wort oder einem Satz.

„Nichts brauchen wir so nötig wie Dich Schwester Gott …
Schenk uns neue Worte für Deine Wahrheit Gott
Und neue Taten für Deine Gerechtigkeit …
Mach uns mutig wie ein Baby das laufen lernt
Und ansteckend wie ein Kinderlachen im Sommer“

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Carola Moosbach: Ins leuchtende Du – Aufstandsgebete und Gottespoesie, EB-Verlag 2021, ISBN 978-3868933611, 144 Seiten, Preis: 15,00 Euro

Darf ich was vorsingen?

Darf ich was vorsingen?

Inga Rumpf:

Darf ich was vorsingen?

Eine autobiografische Zeitreise

Im Mai diesen Jahres konnte ich die Sängerin Inga Rumpf mal wieder live erleben – im Wernigeröder Konzerthaus Liebfrauen. Das erste Mal habe ich sie vor 50 Jahren auf der Waldbühne meiner Heimatgemeinde hören und sehen dürfen. Damals war sie mit ihren Bands, zuerst den City Preachers, später mit Frumpy und Atlantis eine bekannte Rockröhre mit beeindruckender Stimme. Das ZEITmagazin brachte sie 1973 mit der Überschrift aufs Titelbild: „Der Krautrock aus Deutschland und sein Superstar Inga Rumpf.“ Da musste ich natürlich die im Herbst letzten Jahres erschienene Autobiografie erstehen – handsigniert selbstverständlich.

Auch ohne Signatur und ohne persönliche Vorgeschichte ist es ein unterhaltsames Buch, reichlich illustriert mit vielen Fotos, das einen Teil deutscher Rock- und Soulgeschichte abbildet. Es begegnen zahlreiche bekannte Musiker wie z.B. Udo Lindenberg, Peter Maffay, Joja Wendt oder Konstantin Wecker. Vom Krautrock hat Inga Rumpf sich weiterentwickelt über Soul, Blues und Jazz, aber auch in Kirchen war sie mit Gospelsongs erfolgreich.

In die vielen Geschichten über Musik werden auch persönliche Erlebnisse der Hamburger Seemannstochter eingeflochten – über die Kindheit in Hamburg, Ausflüge auf internationale Bühnen, Alkohol und Drogen, Liebe und Verlust, Leben in der Großstadt und schließlich das Leben auf dem Land in der Wesermarsch.

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Inga Rumpf: Darf ich was vorsingen? Eine autobiografische Zeitreise, Verlag Ellert & Richter 2021, 352 Seiten, 25,00 Euro. | Für September 2022 ist eine Taschenbuchausgabe zum Preis von 20,00 Euro angekündigt.

Sieh hin!

Sieh hin!

Wieteke van Zeil:

Sieh hin!

Ein offener Blick auf die Kunst

Die niederländische Kunsthistoriker öffnet den Blick für Kunst und leitet den Blick der Betrachtenden auf ganz besondere Weise. So entsteht ein schöner Zugang zu bekannten oder unbekannten Kunstwerken, immer wird der Blick zunächst auf ein Detail gerichtet, das sonst vielleicht gar nicht aufgefallen wäre. Vom Detail her wird das gesamte Kunstwerk – vor allem Gemälde, aber auch Skulpturen – erschlossen. „Erst das – scheinbar – unbedachte Detail macht ein Bild wirklich unvergesslich“ ist das leitende Motto des Buches. Vorrangig geht es um Kunstwerke vom 14. bis zum 19. Jahrhundert.

Da fällt der Fuß von Daphne aus der griechischen Sage auf, die goldenen Kugeln in der Hand des Heiligen Nikolaus oder auch die schwarzen Sklavinnen, die nach Surinam verschleppt wurden. Immer gelingt es der Autorin, die Details in die größeren Zusammenhänge zu rücken, oft auch erstaunliche Verbindungen zu unserer Gegenwart herzustellen.

Ergänzt werden die Betrachtungen durch grundlegende Erkenntnisse und konkrete Tipps, die hilfreich sind für Museumsbesuche und die eigene Erschließung von Kunst. Auch Interviews mit Menschen, die schon von berufswegen auf das genaue Hinschauen angewiesen sind, z.B. mit einem Polizisten oder einer Genetikerin, sind eine bereichernde Ergänzung.

Gelegentlich hätte ich mir die Bilder in besserer Qualität gewünscht. Aber im Internet und erst recht beim Museumsbesuch findet man ja bessere Ansichten. Alles in allem ein wunderbares Buch, das Lust auf Kunst macht. Das Buch macht eine grundlegende Erkenntnis glaubwürdig: „Gute Kunst, darauf können Sie vertrauen, birst vor Details, die Ihnen Neues enthüllen, wenn Sie sich die Zeit dafür nehmen.“

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Wieteke van Zeil: Sieh hin! Ein offener Blick auf die Kunst, E. A. Seemann Verlag 2022, ISBN 978-3865024701, 224 Seiten mit 80 farbigen Abbildungen, 28,00 Euro.

Im eigenen Feuer

Im eigenen Feuer

Ami Ajalon:

Im eigenen Feuer.

Wie Israel sich selbst zum Feind wurde und die jüdische Demokratie trotzdem gelingen kann. Erinnerungen eines Geheimdienstchefs

Selten habe ich ein politisches Buch mit so viel Schrecken und Freude gleichzeitig gelesen. Schrecken über die Brutalität der Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern, die der Autor aus eigener Beteiligung und nächster Nähe beschreibt. Freude über den Prozess des Nachdenkens über eigene Positionen, die Suche nach Lösungen und den Mut zum Wandel bei einem klaren Bekenntnis zum unbestreitbaren Existenzrecht Israels.

Der ehemalige Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes führte mich mitten hinein in eine mir fremde Welt des Militärs und Geheimdienstes. Auf interessante, gut lesbare Weise nimmt Ajalon mit an wichtige Stationen der israelischen Geschichte und der – zumeist gescheiterten – Friedensbemühungen. Spannend ist zu sehen, wie der ehemalige Hardliner zu seiner wertvollsten Lektion, die er gelernt hat, gekommen ist: „Palästinenser als Menschen, nicht als Zielscheiben zu sehen“.

Im Geleitwort schreibt der berühmte Dirigent Daniel Barenboim: „Ajalons Memoiren zeigen uns, dass es für Menschen doch möglich ist, sich selbst, ihre Meinungen und Handlungsweisen zu ändern und das Gegenüber nicht nur zu erkennen, sondern auch Empathie für den vermeintlichen Feind zu empfinden.“

Nur eine Anmerkung: Das hervorragende Buch hätte eine deutlich sorgfältigere Fehlerkorrektur seitens des Verlags verdient gehabt.

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Ami Ajalon: Im eigenen Feuer. Wie Israel sich selbst zum Feind wurde und die jüdische Demokratie trotzdem gelingen. Erinnerungen eines Geheimdienstchefs, Dietz-Verlag November 2021, 360 Seiten, ISBN 978-3801206192, 26,00 Euro.

Träume in Zeiten des Krieges

Träume in Zeiten des Krieges

Ngũgĩ wa Thiong’o:

Träume in Zeiten des Krieges: Eine Kindheit

Der kenianische Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o hat ein zutiefst menschliches Buch über seine Kindheit vom Ende der 1930er bis in die 50er Jahre geschrieben. Ich habe allerdings ein wenig gebraucht, um mich im Buch zu orientieren; der Zugang zu der fremden Welt fiel mir zu Beginn nicht leicht. Aber dann erschließt der Autor die Welt seiner Kindheit bis zum traditionellen Ritual des Übergangs zum Mannsein.

Lebendig wird das Leben als Sohn der dritten von vier Frauen seines Vaters ebenso wie die Zerstörung des dörflichen Lebens durch ungerechte koloniale Strukturen, die Unterstützung seiner Mutter für sein Streben nach Bildung und das Hin- und Hergerissensein zwischen traditioneller und moderner Lebensweise. Die Anerkennung, die der Autor als Kind von seinem Großvater bekam, weil er schon als Kind für ihn die Briefe lesen und schreiben konnte, drückt dieser mit einem schönen Bild aus: „Er hat meinen Gedanken Kleider gegeben.“ Eingestreut sind vor allem zu Beginn kleine Lektionen in kenianischer und britischer Kolonialgeschichte.

Die großen Träume von Gerechtigkeit, Leben ohne Angst vor der ständig präsenten Gewalt und Befreiung von weißer Vorherrschaft sind ebenso anschaulich geschildert wie der kleine, doch große Traum des Jungen, einmal mit der Eisenbahn zu fahren. Und es ist beeindruckend, wie trotz aller negativer Erfahrungen humane Werte das Buch prägen: „Ich glaube wie Mutter daran, dass Zorn und Hass das Herz zerfressen.“

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Ngũgĩ wa Thiong’o: Träume in Zeiten des Krieges: Eine Kindheit, Fischer Taschenbuch 2012, 264 Seiten, ISBN 978-3596192335, Preis: 15,00 Euro.

Also sprach Sarah Tustra

Also sprach Sarah Tustra

Matthias Steinbach:

Also sprach Sarah Tustra

Nietzsches sozialistische Irrfahrten

Friedrich Nietzsche war sicher einer der umstrittensten Philosophen des 19. Jahrhunderts mit einer langen und breiten Wirkungsgeschichte. Was geschieht aber, wenn nicht das freie Argument in der Auseinandersetzung um seine Positionen wirken darf, sondern der Staat im vermeintlichen Besitz der Wahrheit entscheidet, was gesagt und geschrieben werden darf? Darum geht es im Buch von Matthias Steinbach, Professor für Geschichte an der TU Braunschweig, der den Konflikten um Nietzsche in der DDR nachgeht.

So ist es nicht nur ein Buch über die dogmatische Festlegung der DDR-Führung, Nietzsche habe mit seiner Philosophie dem Faschismus vorgearbeitet. Vielmehr führt es auch „mitten hinein in den intellektuellen und kulturellen Alltag des real existierenden Sozialismus“ mit all seiner Engstirnigkeit, mit Denunziationen und Überwachung. Und es zeigt die Versuche, starre Haltungen aufzubrechen. Die Gedankengänge verlangen durchaus eine gedankliche Konzentration, die jedoch immer wieder anekdotisch und unterhaltsam aufgelockert werden. Auch führt das Buch an die Orte, an denen Nietzsche Spuren hinterlassen hat. Zudem lässt Steinbach den Leser an seinen persönlichen Erfahrungen im Studium in der DDR Ende der 1980er Jahre teilhaben.

Der merkwürdige Titel des Buch verweist übrigens darauf, dass die Stasi-Offiziere, die Protokolle der Überwachung von Verdächtigen anfertigten, weder Nietzsches Namen noch die Titel seiner Werke richtig schreiben konnten.

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Matthias Steinbach: »Also sprach Sarah Tustra«. Nietzsches sozialistische Irrfahrten, Mitteldeutscher Verlag 2020, ISBN 978-3963114243, 288 Seiten, 20,00 Euro

Ein besonderer Leckerbissen zum Buch: Matthias Steinbach wird am 17. Juni 2022 in der Bücherheimat aus seinem Werk lesen und es vorstellen. Man darf sich nicht nur auf einen lehrreichen, sondern auch unterhaltsamen Abend freuen. Näheres wird rechtzeitig bekannt gegeben.