Hans Georg Ruhe über „Die Überlebenden“

Hans Georg Ruhe über „Die Überlebenden“

Alex Schulman:

Die Überlebenden

Drei Brüder treffen sich nach Jahrzehnten wieder, um die Asche ihrer Mutter nahe dem familiären Sommerhaus zu verstreuen. Sie teilen ihre Erinnerungen, ihre gegenseitigen Verletzungen, schildern scheinbar emotionslos das schräge Verhalten der Mutter und das Bemühen des Vaters – immer gedämpft durch deren elterlichen Alkoholismus.

Allmählich taucht in den Erinnerungen ein Unfall auf, der Fixpunkt und Katastrophe der Familie ist. Man beginnt Kälte, Wut und die leise Verzweiflung zu verstehen.

Der schwedische Autor Alex Schulman montiert Vergangenheit und Gegenwart gekonnt und schickt den Leser immer wieder in die stillen Abgründe einer Familie – einer Familie, die nicht lieblos aber entfremdet scheint.

Das Buch „Die Überlebenden“ war in Schweden sehr erfolgreich und wurde in 31 Sprachen übersetzt.

Alex Schulman: „Die Überlebenden“, dtv, 304 Seiten, ISBN 9783423148535, Preis: 13,00 Euro.


Hans Georg Ruhe über „Sakari lernt, durch Wände zu gehen“

Hans Georg Ruhe über „Sakari lernt, durch Wände zu gehen“

Jan Costin Wagner:

Sakari lernt, durch Wände zu gehen

Immer weniger als Kriminalroman erkennbar, doch permanent spannender werdend bis zum Schluss:

Der sechste Roman um den finnischen Kommissar Joentaa ist große Kunst, ist gekonnte Literatur. Wagner verwebt Zeit- und Erfahrungsebenen zunächst verwirrend, dann aufregend und endlich fast entspannend. Sein Stil ist dicht: kein Wort zufiel, knappe Sätze voller Andeutungen, einfache Sprache, prägnant.

Der offenbar verwirrte Sakari wird von einem Polizistenkollegen erschossen. Die Recherchen des Kommissars stoßen auf verletzte Familien, auf stumme Verzweiflung und einen Motorradunfall, der schon Jahre zurückliegt und alles verändert hat – am Ende auch Handlung und Wahrnehmung des Polizisten, der selbst unter einem Verlust leidet.

Das Buch bleibt lange im Kopf, im Herz, in den Kleidern hängen.

Jan Costin Wagner: „Sakari lernt, durch Wände zu gehen“ – ein Kimmo-Joentaa-Roman, Verlag Galiani Berlin, 240 Seiten, ISBN: 978-3-86971-018-1, Preis: 10,00 Euro.


Hans Georg Ruhe über „Wir hätten uns alles gesagt“

Hans Georg Ruhe über „Wir hätten uns alles gesagt“

Judith Hermann:

Wir hätten uns alles gesagt

Während ich das Buch lese, geht mir immer wieder durch den Kopf: Warum erzählt Judith Hermann mir das? Warum möchte die Autorin, dass ich diese 187 Seiten lese? Während ich mich das frage, lese ich weiter und weiter, jede Zeile mit Bedacht, und kann das Buch nicht aus der Hand legen.

„Wir hätten uns alles gesagt“ ist in einer weichen, warmen Sprache geschrieben – mit Worten, die Gefühlszustände einkreisen und doch im Ungefähren bleiben. Es ist ein Buch über Familie, Freundschaft und über Schreiben: Wo beginnt Geschichte, wo endet die Realität, wo wird geträumt oder erzählt

Judith Hermann veröffentlicht ihre Frankfurter Poetikvorlesungen von 2022. Es ist kein wissenschaftlicher Text, sondern eine Geschichte ohne Plot, mit wechselnden Vorder- und Hintergründen. Ein erstaunliches Buch.

Nachtrag: Judith Hermann erhält für dieses Buch den Braunschweiger Wilhelm-Raabe-Preis 2023.

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Judith Hermann: „Wir hätten uns alles gesagt“, S.Fischer, 187 Seiten, ISBN 978-3-10-397510-9, Preis: 23,00 €.


Hans Georg Ruhe über „Ein Hof und elf Geschwister“

Hans Georg Ruhe über „Ein Hof und elf Geschwister“

Ewald Frie:

„Ein Hof und elf Geschwister“

Ein berührendes Buch: Der Autor Ewald Frie lehrt in Tübingen Neuere Geschichte, stammt aus dem Münsterland und schildert die Geschichte seiner Familie. Er beschreibt den „stillen Abschied vom bäuerlichen Leben“.

Frie hat seine Geschwister interviewt und bringt deren Erleben als Bauerskinder in den Zusammenhang von Ende und Veränderung. Er zeigt die Brüche in den Dörfern auf, die Konfrontation unterschiedlicher Lebenswelten, das gegenseitige Unverständnis und das Verschwinden eines (katholischen) Milieus, das lange prägend für weite Teile Westfalens war.

Sein Stil ist lakonisch-melancholisch. Ihm gelingt es, im Biografischen das Kollektive zu spiegeln. Beim Lesen schaut man zu, wie eine Welt „still“ versinkt.

Frie regt meine Erinnerungen als Sohn eines Dorfschmiedes an. Und er löst so etwas wie „Spätscham“ aus: So wenig habe ich als Kind und Jugendlicher von der bäuerlichen Welt gewusst und so viel falsch verstanden.

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Ewald Frie: „Ein Hof und elf Geschwister – Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben“, C.H.Beck 2023, 191 Seiten, ISBN 9783406797170, Preis: 23,00 Euro.


Hans Georg Ruhe über „Kummer aller Art“

Hans Georg Ruhe über „Kummer aller Art“

Mariana Leky:

Kummer aller Art

Die Bestsellerautorin („Was man von hier aus sehen kann“) hat ihre literarischen Kolumnen, die zuerst in „Psychologie heute“ erschienen sind, überarbeitet und gesammelt veröffentlicht. Leky beschäftigt sich mit dem Alltag, mit den kleinen und großen Macken, dem scheinbar Nebensächlichen. Man merkt den kurzen Geschichten an, in welchem Umfeld sie zunächst erschienen sind: Psychos kommen auf ihre Kosten. Zwangshandlungen, Alltagsneurosen, soziale Defizite und liebenswerte Kummereien werden mit leichter Hand und viel Humor selbstironisch erzählt. Flach bleibt es selten. Meistens spielen die tatsächlichen oder fiktiven Nachbarn eine Rolle: Frau Wiese, Herr Schnepp oder der unsägliche namenlose Untermieter.

„Kummer aller Art“ ist ideal für den Nachttisch: Nach jeweils zweieinhalb Seiten wird man mit einem Lächeln einschlafen oder ratlos wachliegen, weil man sich ertappt fühlte.

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Mariana Leky: „Kummer aller Art“, Dumont Buchverlag, 170 Seiten, ISBN 9783832182168, Preis: 22,00 Euro.


Hans Georg Ruhe über „Die Flamme der Freiheit“

Hans Georg Ruhe über „Die Flamme der Freiheit“

Jörg Bong:

Die Flamme der Freiheit

1848 wird in Frankreich zum dritten Mal gegen den Feudalismus revoltiert und endlich springt der Funke auch auf Deutschland über. Deutschland ist zu diesem Zeitpunkt ein Flickenteppich vieler Fürstentümer, voller Kleinstaaterei, zerschnitten von Zollgrenzen. Der „Deutsche Bund“ signalisiert Nationales, sichert aber nur die reaktionäre Macht des Adels.

Jörg Bong, langjähriger Verleger des S. Fischer Verlages, hat den ersten, fulminanten Band der „deutschen Revolution 1848/49“ vorgelegt. Sprachmächtig beschreibt er die Auflehnung des Bürgertums, der Bauern- und Arbeiterschaft vor allem im südwestlichen Deutschland. Er zeigt die frühe Spaltung der Bewegung, die Hinterhältigkeit der Fürsten, die Gnadenlosigkeit Preußens und die Unfähigkeit zur Einheit.

Bong erzählt wie ein Reporter – als habe er mit Mikrofon und Kamera dokumentieren können. Und er erzählt sorgfältig. Präzise schildert er z.B. die Rollen herausragender Frauen – die von Emma Herwegh oder Amalie Struve.

Der erste der drei geplanten Bände endet mit dem Frankfurter „Vorparlament“. Die beiden Folgebände erscheinen Herbst 2023 bzw. 2024.

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Jörg Bong: „Die Flamme der Freiheit – Die deutsche Revolution 1848/1849“, Kiepenheuer & Witsch, 553 Seiten, ISBN 9783462003130, Preis: 29,90 Euro.


Hans Georg Ruhe über „Die Nacht unterm Schnee“

Hans Georg Ruhe über „Die Nacht unterm Schnee“

Ralf Rothmann:

Die Nacht unterm Schnee

Rothmann schließt mit „Die Nacht unterm Schnee“ seine Trilogie der Kriegs- und Nachkriegszeit ab. Er erzählt die Geschichten verwundeter Menschen, die mit dem Gräuel des Krieges weiterleben (müssen). Die Protagonistin dieses letzten Buches ist Elisabeth, die mit Walter zusammenlebt. Beide sind schwer gezeichnet vom Krieg und von der Nachkriegszeit. Sie leben ihr Leben im Schweigen voreinander weiter. Das, was ihnen begegnet ist, können sie nicht in Sprache fassen.

Elisabeth wurde von Russen vergewaltigt und von Russen gerettet. Danach irrt sie durch die begrenzte Welt, offenbar immer auf der Suche nach einem glücklicheren Leben. Die Gewalt, die ohne Grund über sie gekommen ist, hat ihr Vertrauen in das Leben zerstört.

Das Buch arbeitet mit mehreren Ebenen und Rückblenden, führt zärtlich an die Akteure heran. Trauma und Posttrauma kommen sehr nahe.

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Ralf Rothmann: „Die Nacht unterm Schnee“, Suhrkamp, 304 Seiten, ISBN 9783518430859, Preis: 24,00 Euro.


Lebensstufen

Lebensstufen

Lebensstufen

Julian Barnes:

Lebensstufen

Ein Buch ohne penetranten Trauergestus: Locker verwebt Barnes drei einzelne Begebenheiten. Zu Beginn erzählt er von den ersten Menschen, die sich in die Lüfte erhoben haben und die Welt von oben sehen: die Ballonfahrer. In der zweiten Geschichte verliebt sich einer der Ballonfahrer in die berühmte französische Schauspielerin Sarah Bernhardt, die ihn abweist. Und in der dritten berichtet Julian Barnes vom plötzlichen Tod seiner Frau und der tiefen Trauer, die ihn ergriffen hat. Er beschreibt sich und seine Erfahrungen sachlich-konsterniert: Er ist in ein neues Leben gestürzt, nichts ist wie vorher. Als er verzweifelt an Selbstmord denkt, stoppt ihn ein Gedanke: Seine geliebte Frau würde mit ihm ein zweites Mal sterben, denn er bewahre Erinnerungen an sie auf, die dann verloren wären.

Lesenswert für Trauernde, hilfreich für Freunde und Angehörige von Verlassenen.

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Julian Barnes: „Lebensstufen“, btb-Verlag,  141 Seiten, ISBN 9783442713714, Preis: 9,99 Euro.


Wir konnten auch anders

Wir konnten auch anders

Wir konnten auch anders

Annette Kehnel:

Wir konnten auch anders

Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit  

Warum Dinge wegwerfen, wenn man sie reparieren kann? Warum Gelder anhäufen, statt sie gewinnbringend zu teilen? Warum vereinzelt wohnen, wenn Gemeinschaft so viel zufriedener macht? Diese und andere Fragen beantwortet Annette Kehnel, indem sie weit in die Vergangenheit schaut und aufzeigt, dass nachhaltiges Leben keine Erfindung unserer Jahre ist, sondern schon im Mittelalter bedeutsam war. Erst der überbordende Kapitalismus hat die vielversprechenden Ansätze zunichte und vergessen gemacht.

Die Autorin schreibt über Recycling, Mikrokredite, Bauen, Spenden und Stiftungen, über Minimalismus und Sharing. Ihre Kenntnisse zieht sie aus einem Forschungsprojekt der Universität Mannheim. Kehnel schreibt nicht professoral, sondern sehr unterhaltsam und humorvoll – am Ende etwas pädagogisch, aber es ist auszuhalten. Das Buch ist spannend, öffnet den Blick und ändert Perspektiven jenseits des kulturellen Pessimismus. Allein ihre verblüffende Interpretation des unseligen Ablasswesens der Kirche macht das Buch sehr lesenswert: Plötzlich erhält „Crowdfunding“ einen historischen Background.

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Annette Kehnel: „Wir konnten auch anders – Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit“, Blessing Verlag, 488 Seiten, ISBN 9783896676795, Preis: 24,00 Euro


Strafe

Strafe

Hakan Nesser/Paula Polanski:
Strafe

Normalerweise schreibt der “Philosoph unter den Krimiautoren Skandinaviens“ (FAZ) allein. „Strafe“ hat er gemeinsam mit Paula Polanski geschrieben – und damit beginnt die Verwirrung. Die Autoren entwickeln eine verschachtelte, merkwürdige Geschichte:

Der lange ignorierte und sterbende Schulfreund des Protagonisten bittet um einen letzten Dienst: Beide verbindet Abneigung und die frühe Zuneigung zu einer Mitschülerin. Der Sterbende nötigt den Protagonisten, er möge sie ausfindig machen. Es entwickelt sich eine Geschichte in der Geschichte und am Ende steht ein starker Plot, den der ahnungslose Leser kaum vorausahnen kann. Dieser Plot hievt die Lektüre plötzlich auf eine andere Ebene. Das Drama mit den vielen Facetten endet, bevor der Protagonist im nahen Teich ertränkt werden könnte.

— Das will ich lesen! Alle Links im Text führen direkt zum Shop —

Hakan Nesser/Paula Polanski: Strafe, btb-Verlag, 238 Seiten, ISBN 9783442714520, Preis: 9,99 Euro.