Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten

Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten

Alice Hasters:

Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten

Die Journalistin Alice Hasters, 1989 in Köln geboren, beschreibt im Buch ihre vielfältigen Erfahrungen von Rassismus in verschiedensten Lebensbereichen. Auch harmlos klingende Fragen – „Darf ich mal deine Haare anfassen“ – oder als Kompliment gemeinte Äußerungen – „Du hast einen richtig schönen N**erpopo“ – sind Ausdruck rassistischer Einstellungen, so ihre Grundthese. In den Bereichen Alltag, Schule, Körper, Liebe und Familie wird diese durchbuchstabiert. Dabei belässt Hasters es nicht bei der Beschreibung eigener Erfahrungen, sondern sie bezieht auch wissenschaftliche Erkenntnisse und Literatur kenntnisreich mit ein, um ihre Position zu untermauern. Dabei bleibt der Text immer gut lesbar. Mich hat das Buch an vielen Stellen angestoßen, noch einmal vertieft nachzudenken. Zum Beispiel, ob wir die Tradition der europäischen Aufklärung – ohne die hohe und bleibende Bedeutung von Vernunft, Menschenrechten und Toleranz infrage zu stellen – nicht doch neu erzählen müssten, wenn es von ihren prominenten Vertretern rassistische Äußerungen gibt. Auch wenn ich am Ende nicht allen Wertungen der Autorin zustimme, so habe ich das Buch trotzdem mit Gewinn gelesen.

Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten, hanserblau 2019, 224 Seiten, ISBN  978-3446264250, Preis: 17,00 Euro.

Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

Andre Heller: Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

Andre Heller: Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

André Heller:

Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

Der vielseitig begabte und engagierte Wiener Multimediakünstler, Poet, Liedermacher, Kulturmanager und Schauspieler André Heller verwebt in dieser Erzählung eigene Kindheitserinnerungen kreativ mit phantasievollen Einfällen zu dieser Erzählung um den Jungen Paul. Paul besucht auf Geheiß des Vaters ein erzkatholisches Internat: „Am falschen Ort und bei den falschen Leuten … Künftige Kirchenfürsten und Minister der christlichen Volkspartei, Generaldirektoren bürgerlicher Großbanken und Universitätsprofessoren züchtete man dort. Aber ich hatte anderes mit mir vor.“ Weltmeister im Unsichtbarsein oder Taucher im Inneren des Vesuvs wollte Paul werden und entwickelt Gegenstrategien. Zur Bestattung des Vaters reisen Pauls Onkel aus Übersee an und geben Anekdoten aus dem schillernden Leben der Silbersteins, einer jüdischen Wiener Großindustriellenfamilie, zum Besten. Onkel York hat auch einen Ratschlag für Paul: „Hör zu: Geboren wird man als Entwurf zu einem Menschen, und dann muss man Zeit seines Lebens aus sich einen wirklichen Menschen machen.“

Eine unterhaltsame und wunderbar zu lesende Erzählung voller Phantasie und Poesie!

André Heller: Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein, S. Fischer 2008, 144 Seiten, ISBN 978-3100302090, Preis: 16,90 Euro.

Aufbrechen

Tsitsi Daganrembga: Aufbrechen

Tsitsi Daganrembga: Aufbrechen

Tsitsi Dangarembga:

Aufbrechen

„Ich war nicht traurig, als mein Bruder starb.“ Dieser erste Satz des Romans hat mich gleich in die Geschichte des jungen Mädchens Tambu hineingezogen. Die Geschichte spielt in den 1960er und 70er Jahren in Simbabwe – bis 1965 noch britische Kolonie und noch bis 1980 Rhodesien genannt. Sehr anschaulich wird der Kampf Tambus um Bildung, Anerkennung und Gleichberechtigung geschildert – ihre Herkunft aus Armut und Kinderarbeit im Dorf, der neidische Blick auf den Bruder, der die Missionsschule in der Stadt besuchen darf, die patriarchalen Strukturen in ihrer Familie und der Gesellschaft. Als Tambu schließlich selbst städtische Schulen besuchen darf, erfährt sie auch die koloniale Bevormundung im Land am eigenen Leib. Die Teilhabe an der britisch geprägten Bildung stellt sie vor die Frage der eigenen Zugehörigkeit: „Sag mir Tochter, was werde ich, deine Mutter, dir zu sagen haben, wenn du nach Hause kommst, eine Fremde voller weißer Gewohnheiten und Ideen?“ – so formuliert es Tambus Mutter bei ihrem Fortgang in die Stadt.

Der Roman ist im Original bereits 1988 erschienen; doch auch heute ist das Buch der Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels von 2021 immer noch lohnend und trägt zum besseren Verständnis Afrikas bei. Gewünscht hätte ich mir ein erweitertes Glossar, um leichter in die afrikanischen Begriffe und Vorstellungswelten hineinzukommen.

Tsitsi Dangarembga: Aufbrechen, Orlanda Verlag 2019, 280 Seiten, ISBN 978-3-944666600 Preis: 22,00 Euro.

Warum Netflix so erfolgreich ist

Keine Regel,. Warum Netflix so erfolgreich ist

Keine Regel,. Warum Netflix so erfolgreich ist

Reed Hastings/Erin Meyer:

Keine Regeln. Warum Netflix so erfolgreich ist

Ich habe gerade das Buch „KEINE REGELN warum Netflix so erfolgreich ist“ aus der Hand gelegt. Literatur über Unternehmensführung gibt es reichlich. Die Grundregel zwischen Highperformern und Selbstdarstellern zu unterscheiden ist nicht neu, wird aber bei Netflix konsequent durchgeführt. Die Netflixleute sind auf der Suche nach einer sehr hohen Talentdichte. Diese Talente erhalten sehr viele Freiheiten, zum Beispiel die Eigenentscheidung über die Häufigkeit und Dauer des Urlaubs. Dafür wird eine sehr hohe Verantwortung erwartet. Die Erkenntnis das gute Leute in einem Unternehmen von schlechten Kollegen und untalentierten Vorgesetzten genervt sind, wird in diesem Buch besonders breit dargestellt. Der Erfolg von Netflix scheint dem CEO und Gründer Reed Hastings Recht zu geben. Das Buch gehört in die Hände von Menschen die sich mit Führung beschäftigen. Das Buch hat mich inspiriert.

Reed Hastings/Erin Meyer: Keine Regeln. Warum Netflix so erfolgreich ist. Econ-Verlag, 400 Seiten, ISBN 978-3-430-21023-2, Preis: 26,00 Euro.


Denen man vergibt

Lawrence Osborne: Denen man vergibt

Lawrence Osborne:

Denen man vergibt

Lawrence Osborne: Denen man vergibt

Dieses Buch zieht einen vom ersten Moment an soghaft in den Rausch der Ereignisse. Ein Paar ist unterwegs durch die nächtliche Marokkanische Wüste. Begleitet von ihren jeweils eigenen Dämonen und unzufrieden mit dem Lebenswandel des Anderen, sind sie auf dem Weg zu einer  glamourösen Party. Was suchen sie? Was werden sie finden?  Als Leser*in kann man sich dem schicksalshaften Geschehen bald nicht mehr entziehen, steht erstaunt neben den Protagonisten, ist selbst zutiefst in die Sache verstrickt und sieht das Ende doch nicht kommen. Neben dem spannenden Handlungsstrang besticht Osborne mit seiner Sprache und der allgegenwärtigen Frage, wie und ob das eigene Handeln das Schicksal bestimmt. Das exotische Setting verstärkt die Intension auf ganz subtile Art. Ein süßer Pfefferminztee und ein paar Datteln machen die Lektüre perfekt.

Lawrence Osborne: „Denen man vergibt“, dtv Verlagsgesellschaft, 272 Seiten, ISBN 978-3-423-14699-9, Preis: Tb 11,90 Euro, Preis: HC 12,90 Euro.

Das Buch „Denen man vergibt hat aus dem BÜCHER-HEIMAT-Team auch Petra Nietsch besprochen.


Die Nickel Boys

Colson Whitehead: Die Nockel Boys

Colson Whitehead: Die Nockel Boys

Colson Whitehead:

Die Nickel Boys

Colson Whitehead erzählt auf packende Weise die Geschichte von Elwood, der Anfang der 1960er Jahre in Florida im Ghetto der Schwarzen bei seiner Großmutter aufwächst. Mit Martin Luther King und seinen Reden, die er wieder und wieder von der Platte hört, träumt Elwood von der Befreiung und Gleichberechtigung der Schwarzen, die so anders sein wird als die erlebte Gegenwart der Diskriminierung und Ausgrenzung. Sein persönlicher Traum, aus dem Ghetto herauszukommen, scheint in Erfüllung zu gehen, als er einen Platz am College erhält. Stattdessen gerät Elwood in eine Erziehungsanstalt voller Brutalität und Willkür. Die Ohnmacht angesichts der gewaltvollen Strukturen wird erlebbar. Eine Flucht aus der Anstalt ist aussichtslos, auch wenn der Traum von Martin Luther King lebendig bleibt. Am Ende hält der Roman eine überraschende Wendung bereit.

Offenbar muss man – wie Whiteheads Roman zeigt – selbst kein Schwarzer sein, um klar und unmissverständlich den Rassismus der US-Gesellschaft darzustellen und die Leserinnen einfühlsam mitzunehmen in diese Geschichte. Aber Achtung: Man muss sich darauf gefasst machen, dass die rassistische Sprache der Zeit im Text ohne Warnung benutzt wird, man also auch das N**-Wort zu lesen bekommt. Wie sonst sollte es gehen, diese Zeit verständlich zu
machen und den Rassismus, der ja bis heute nicht vorüber ist, aufzuzeigen?

Colson Whitehead: Die Nickel Boys, btb Verlag 2020, 240 Seiten, ISBN 978-3442770427, Preis: 12,00 Euro

Deutsches Haus

Annette Hess: Deutsches Haus

Annette Hess: Deutsches Haus

Annette Hess:

Deutsches Haus

„Deutsches Haus“ ist der erste Roman der Drehbuchautorin Annette Hess. Der Roman nimmt uns mit ins Jahr 1963 nach Frankfurt, wo der Auschwitzprozess stattfand, der die bundesdeutsche Wohlstandsgesellschaft zum ersten Mal mit den nationalsozialistischen Verbrechen konfrontierte, auch wenn viele damals lieber nichts davon und von eigenen Verstrickungen wissen wollten.

Die junge und recht unbedarfte Eva wird zunächst vertretungsweise als Dolmetscherin für Polnisch in den Prozess hineingezogen. Ihre Familie und der Verlobte lehnen dies ab; aber auch gegen deren Willen nimmt sie die Arbeit an und erfährt immer mehr, wie bedeutend es ist, dass die Opfer zu Wort kommen und sie ihnen ihre Stimme gibt. Die Grauen im Vernichtungslager werden deutlich, ohne den Leser übermächtig zu erdrücken und hilflos zu machen. Mehr Raum im Roman nehmen ohnehin die Geschichten außerhalb des Gerichts ein, wobei nach und nach deutlich wird, welche Erinnerungen die verschiedenen Personen mit sich schleppen.

Nach meiner Einschätzung könnte man auf einige der Seitengeschichten im Roman verzichten – warum z.B. vom Zahnarztbesuch der Mutter von Eva erzählt werden muss, erschließt sich mir nicht. Dennoch: Auch wenn es keine große Literatur ist, gelingt es dem Buch recht anschaulich und bildhaft die Atmosphäre in Deutschland Mitte der 1960er Jahre – auch die Bevormundung der Frauen, die Ankunft der „Gastarbeiter – mit unterschiedlichen und widersprüchlichen Charakteren und Interessen einzufangen, was wohl auch den Vorerfahrungen von Annette Hess als Drehbuchautorin zu verdanken ist. So steht „Deutsches Haus“ nicht nur für die Gaststätte, die von Evas Eltern betrieben wird, sondern für die deutsche Gesellschaft in der Mitte der 1960er Jahre.

Annette Hess, Deutsches Haus, Ullstein 2018, 368 Seiten, ISBN 978-3550050244, Preis: 20,00 Euro.

Widerstand ist zwecklos – Nein!

Lea Loss: Widerstand ist zwecklos

Lea Loss: Widerstand ist zwecklos

Lea Loss:

Widerstand ist zwecklos –Nein!

Ein Comic über gewaltlosen Widerstand

Im Pflegeheim in Altenburg proben „die Alten“ den Aufstand angesichts von Zuständen (nicht nur) beim Essen, die sie als unzumutbar empfinden, wobei auch das Pflegepersonal angegriffen wird. Das mag ein wenig konstruiert sein, ist aber Ausgangspunkt einer informativen und unterhaltsamen Einführung in die Theorie und Praxis gewaltlosen Widerstands. Eine Familie vor dem Fernseher diskutiert über die Legitimation und Wirksamkeit von widerständigen Aktionen. Die Grundthese des Buches besagt, dass das Prinzip der Gewaltlosigkeit zu erfolgreicheren Protesten führt als der Einsatz von Gewalt.

Im Laufe des Comics bekommt die Familie Besuch von internationalen wissenschaftlichen Expert*innen, die sich mit der Geschichte der Gewaltlosigkeit beschäftigt haben und ihre Erkenntnisse über die Bedingungen der Wirksamkeit des Handelns kurz und bündig vorstellen. Eingestreut sind dort knappe lexikalische Einträge zu führenden Gewaltfreien – nicht nur Gandhi und Martin Luther King. Der Comic mag anregend sein für eigene Überlegungen, für Diskussionen, vielleicht auch zur vertieften Beschäftigung mit dieser Materie.

Lea Loss, Widerstand ist zwecklos – Nein!, avant-Verlag 2021, 154 Seiten, ISBN 978-3964450555, Preis: 16,00 Euro.

Zyankali vom Weihnachtsmann

Rex Stout: Zyankali vom Weihnachtsmann


Rex Stout: Zyankali vom Weihnachtsmann

Rex Stout:

Zyankali vom Weihnachtsmann

Ich liebe meine Frau, meine Kinder, Borussia Mönchengladbach und Rex Stout. In der Reihenfolge. Doch während das Gefühl zu Frau und Kindern dauerhaft ist, gibt es in meiner Beziehung zu den Fußballern und zum US-Krimi-Autor Rex Stout Höhen und Tiefen. Die neu aufgelegte Erzählung „Zyankali vom Weihnachtsmann“ gehört eher zu den weniger guten Tagen meiner Liebesbeziehung zum wohlbeleibten Detektiv Nero Wolfe und dessen Adlatus Archie Goodwin.

Immerhin, die Geschichte passt vom Titel her unter den Weihnachtsbaum. Sonst aber passt wenig, wenn man die Nero-Wolfe-Romane und damit die Marotten des Detektivs mit der Leidenschaft für Orchideen und Gourmetküche kennt. Aber sei’s drum: Die Dialoge sind wie immer spannend und köstlich, brillant geschrieben. Sie kennzeichnen die Reihe der zwischen 1934 und 1975 erschienenen Romane und Erzählungen, in denen Action eine untergeordnete Rolle spielt. Zum Einstieg in die Nero-Wolfe-Romane sollten Krimi-Fans ein früheres Werk wählen, zum Beispiel die in neuen Übersetzungen bei Klett-Cotta vorliegenden Romane „Zu viele Köche“ und „Die goldenen Spinnen“.

Rex Stout: „Zyankali vom Weihnachtsmann“, Verlag Klett-Cotta, 1. Aufl. 2019, 139 Seiten, Gebunden, ISBN 978-3-608-96411-0, Preis: 12,00 Euro.


Annette, ein Heldinnenepos

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos

Anne Weber:

Annette, ein Heldinnenepos

Das 2020 mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnete Buch hat einen ganz besonderen Rhythmus, der mich mitgenommen hat in die Geschichte der Anne Beaumanoir. Schon zu Beginn wird klar, dass es keine glatte Heldinnengeschichte ist, sondern eine voller Widersprüche: „Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.“

Anne hat sich als junges Mädchen dem kommunistischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg angeschlossen. Man (frau hoffentlich auch) wird mitgenommen in die Gedankenwelt der widerständigen Frau, in ihr Ringen um das, was sie antreibt und zweifeln lässt in ihrem Handeln. Gegen die Anweisungen der kommunistischen Zentrale rettet sie zwei jüdische Kinder – „ohne Grund oder nur aus dem einen, dass sie ein Mensch ist und sie auch Menschen sind“. Nach dem Krieg könnte das Leben in ruhige Bahnen kommen, Anne wird Ärztin, heiratet, hat Kinder. Doch sie engagiert sich für die Befreiung Algeriens von französischer Kolonialherrschaft. Sie muss schließlich vor Strafverfolgung nach Nordafrika fliehen und ihre Kinder zurücklassen. Immer will Anne streiten für eine bessere Welt, auf der richtigen Seite stehen – aber wo diese ist, ist nicht immer klar. So wird das Bild der Heldin vielfach gebrochen, was dieses Buch lesenswert macht. Dennoch: Am Ende ihres Lebens ist Anne zwar klein und krumm – aber „auch nur von außen; im Innern ist sie gerade.“

Ich habe mir viele schöne und nachdenkenswerte Sätze im Buch markiert.

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos, Matthes & Seitz 2020, 208 Seiten, ISBN 978-3957578457, Preis: 22,00 Euro.