Inspektor Takeda und die Toten von Altona

Henrik Siebold: Inspektor Takeda und die Toten von Altona

Henrik Siebold: Inspektor Takeda und die Toten von Altona

Henrik Siebold:

Inspektor Takeda und die Toten von Altona

Krimis gibt es wie Sand am Meer. Von Thriller bis Cosy Crime findet sich alles, was das Krimi-Herz begehrt. Auch die Protagonisten sind vielfältig. Ob nun Polizeiinspektoren, Special Agents, Geheimagenten, Privatermittler, der Gärtner oder die Ladys aus dem Book-Club, sie alle führen uns gern in kriminelle Versuchung. Allerdings finde ich inzwischen, dass da schon etwas ganz besonderes um die Ecke kommen muss, denn als Vielleserin langweile ich mich schnell, wenn ich das Gefühl habe, dass mir eine Geschichte nicht wirklich etwas Neues zu bieten. Gerade bei Kriminalromanen oder Thrillern benötige ich über einen interessanten Fall hinaus ein originelles Setting und handelnde Personen, die etwas Besonderes auszeichnet.

Dabei reicht es mir inzwischen nicht mehr, dass die Story dort spielt, wohin ich in den Urlaub fahre oder wo ich wohne. Etwas mehr darf es schon sein. Sehr gut unterhalten gefühlt habe ich mich zuletzt bei den ersten Bänden von Gil Ribeiros „Lost in Fuseta“. Die Idee des Personalaustausches über Länder- und Kulturgrenzen hinweg hat dieser Reihe das gewisse Etwas verliehen. Dazu kommt der teilbegabte und verhaltensoriginelle, aber durchaus sympathische Inspektor Lost, den seine Kollegen in Deutschland erfolgreich ins sonnige Portugal losgeworden sind.

Das gewisse Etwas

Ähnlich verhält es sich nun bei den Büchern von Henrik Siebold. Seine Krimireihe um den Japaner Ken Takeda spielt in Hamburg. Dort lebt der Autor momentan, allerdings war Tokio ebenfalls über Jahre seine Wohn- und Wirkungsstätte, wo er für eine japanische Tageszeitung tätig war. Er kennt sich aus mit den kulturellen Unterschieden zwischen Deutschland und Japan und seine Idee, einen Inspektor aus Tokio für ein Jahr nach Hamburg zu versetzen hat nicht nur Charme, sondern birgt eben dieses gewisse Etwas. Frisch in Hamburg eingetroffen, muss Takeda nicht nur seine neue Kollegin Claudia Harms davon überzeugen, dass er auch in Deutschland zu guter Ermittlungsarbeit fähig ist, er bekommt es gleich mit einem Doppelmord zu tun. Oder war es vielleicht doch Selbstmord?

Verzwickter Fall

Harms und Takeda stehen vor einem verzwickten Fall und müssen entscheiden, ob und wieso das Buchhändlerehepaar aus Altona ermordet wurde. Dabei wird man als Leser*in zusammen mit den Protagonisten auf diverse Spuren gelockt und was vor drei Seiten noch logisch war, wird auf einmal durch einen neuen Beweis nicht mehr haltbar. Kurzweilig und spannend ist aber nicht nur der Fall, Takeda als Person macht zusammen mit Matcha-Tee und Kampfsport, aber auch mit seinem Saxophon das aus, was die Reihe von vielen anderen Kriminalromanen abhebt. Sozusagen das Salz in der Suppe oder der Korn zum Bier, um beim Hamburger Lütt un Lütt zu bleiben.

Henrik Siebold: Inspektor Takeda und die Toten von Altona, Aufbau-Taschenbuch, 416 Seiten, ISBN 978-3746632131, Preis: 11,00 Euro.


Das Damengambit

Walter Tevis: Das Damengambit

Walter Tevis: Das Damengambit

Walter Tevis:

Das Damengambit

Lohnt es sich heutzutage noch, ein Buch von 1983 zu besprechen, das bereits in einer Netflixserie Ausdruck gefunden hat? JA, unbedingt! Ich scheue Klassiker grundsätzlich nicht, wenn sie inhaltlich und sprachlich über sich selbst, Zeit und Raum hinausweisen. Und Walter Tevis (1928-1984) schaffte mit dem Roman „Das Damengambit“ genau dies: Er führte mich mitten hinein in den fulminanten Aufstieg des hochbegabten Mädchens Beth, in höchste, von Männern besetzte, internationale Schach-Welten.

Schmerzhafter Spagat

Es hätte ein wunderbares Märchen werden können. Es hätte eine gelungene Emanzipationsgeschichte werden können. Es wurde ein ur-menschliches, tragisch-schönes Psychogramm eines Entwicklungsprozesses, in dem ein Mädchen einerseits großartig werden darf und andererseits klein und gefangen bleibt in sich selbst, in seiner aufgezwungenen Einsamkeit, nur in der Schachwelt scheinbar mit sich im Reinen. Beth erträgt diesen schmerzhaften „Spagat“ nur mithilfe von „kleinen grünen Pillen“ und Alkohol.

(Eliza)Beth Harmon wächst als Waise in einem autoritär und gefühlskalt geführten Kinderheim auf, wie alle dort medikamentös „ruhiggestellt“. Ein Licht im Dunklen wird der Hausmeister, der im Keller einsam Schach mit sich selber spielt, ihr dann aber die Grundlagen dieses Spiels beibringt und schnell Beths außergewöhnliche Begabung erkennt und fördert, bis ihr das Schachspiel von der Heimleitung offiziell untersagt wird. In ihrer Gedankenwelt entwickelt sie die Begabung in den Folgejahren aber weiter, spielt genial Schachpartien mit und gegen sich selbst im Kopf, verkopft zunehmend.

Steter Kampf gegen Angst und Ohnmacht

Zwischenmenschliche Beziehungen verarmen, bleiben oberflächlich, können nicht wirklich als heilsam integriert wahrgenommen werden. Gelingendes Leben heißt für Beth: Jede Schachpartie muss gewonnen werden! Nur dann spürt sie Genugtuung, nur dann ist sie wer. Ein steter Kampf gegen Angst und Ohnmacht, ein steter Kampf gegen die betäubende Sucht. Ihre reale Schachkarriere ist ein „Damengambit“ – e i n möglicher Weg (nicht nur) der Schachspiel-Eröffnung. Ob Beth ihn letztlich auch im übertragenen Sinne für sich als Frau, als Mensch erkennt/geht …

Fazit

Ich kenne Ziel und ein paar Grundregeln des Schachspiels. Das reichte aber vollkommen, um mich auch symbolsprachlich von der Spannung jeder detailliert beschriebenen Schachpartie fesseln zu lassen. Damit steht fest, dieses Buch mag nicht nur einmal gelesen werden – dafür ist die Vielschichtigkeit von möglichen Schach-Zügen der verschiedenen Schachfiguren, dafür sind Menschen und ihre individuellen Entwicklungswege, viel zu komplex, viel zu überraschend. Eben oft nur s c h e i n b a r ausweglos, weil, bei genauerem Hinsehen, dann doch möglich!

Walter Tevis, „Das Damengambit“, Diogenes-Verlag, 416 Seiten, ISBN 978-3-257-07161-0, Preis: 24,00 Euro.


Baking Bread

Georg Matthes u.a.: Baking Bread

Georg Matthes u.a.: Baking Bread

Georg Matthes u.a.:

Baking Bread

Als Mitglied der Gruppe Pulse of Europe Goslar und interessierte Hobby-Bäckerin bin ich auf dieses Buch von Georg Matthes aufmerksam geworden. Es enthält nicht nur Brotrezepte aus jedem der 28 Länder der Europäischen Union, sondern es bietet auch Fakten und Bilder über das jeweilige Land. Humorvoll wird das Brotrezept eingeordnet, um Land und Leute und die Mentalität der Menschen kennenzulernen.

Die Rezepte sind gut verständlich und verhältnismäßig leicht nachzubacken. Über einen abgedruckten QRCode kann man sich bei Bedarf auch von einem Video, das die Deutsche Welle zur Verfügung stellt, anregen und helfen lassen. Auf ein treffendes Zitat des Verfassers Georg Matthes stieß ich im Buch: „‘In Vielfalt geeint‘ steht für die gemeinsamen Werte, den Binnenmarkt, die Freiheit, überall zu leben, und die ​buntesten und unterschiedlichsten Kulturen. Mögen Sie blühen und gedeihen, in allen Mitgliedsländern und in ihren Backöfen.“

Georg Matthes u.a.: „Baking Bread. Die besten Brotrezepte aus 28 Ländern Europas“, Becker Joest Verlag 2019, 176 Seiten, ISBN 978-3954531769 , Preis: 22,00 Euro​.


Als ich vom Himmel fiel

Juliane Koepcke: Als ich vom Himmel fiel

Juliane Koepcke: Als ich vom Himmel fiel

Juliane Koepcke:

Als ich vom Himmel fiel

Es gibt Geschichten, die vergisst man nicht. Juliane Koepcke überlebt 1971 als 17-Jährige einen Flugzeugabsturz im peruanischen Dschungel. Sie fällt angeschnallt auf ihrer Sitzbank aus 300 Meter Höhe in den Urwald, wird durch die Bäume aufgefangen und schlägt sich verletzt elf Tage alleine durch das Dickicht, nur mit einer Handvoll Bonbons in der Tasche. Sie konnte das Unglück als Einzige überleben, weil sie zuvor mit ihren Eltern, beide waren Zoologen, schon einige Jahre im Dschungel in der Forschungsstation Panguana gelebt hatte und die Gesetze des Regenwaldes gut kannte. Ihr Schicksal ging um die Welt.

Erst 40 Jahre später schreibt sie darüber dieses Buch. Ehrlich und mutig nimmt sie uns mit durch die Höhen und Tiefen dieser unglaublichen Geschichte. Die Zukunft des Regenwaldes, über dem sie abstürzte, der sie aufnahm und rettete, ist auch die Zukunft der Menschheit, unseres Klimas und unseres Planeten Erde. Als promovierte Biologin in München kehrt Juliane Koepcke jedes Jahr nach Peru zurück, wo sie die Forschungsstation Panguana leitet und dafür kämpft, es zum Naturschutzgebiet werden zu lassen.

Mit diesem Buch zeigt sie uns, wie zerbrechlich das Leben sein kann und wie notwendig es ist, dass wir lernen, das Wunder des Regenwaldes zu achten und zu schützen. Dieses Buch konnte ich nicht mehr aus der Hand legen.

Juliane Koepcke: „Als ich vom Himmel fiel“, Piper-Verlag, 295 Seiten, ISBN 978-492-27493-7, Preis: 12,00 Euro.


Der Gräber

Frederik P. Winter: Der Gräber

Frederik P. Winter: Der Gräber

Frederik P. Winter:

Der Gräber

Hinein in die spannende Welt im Keller. Das Cover lädt bereits ein in die Welt eines im Dreck wühlenden Ungeheuers , die des Gräbers. Winter schreibt detailliert, ohne sich darin zu verlieren. Die Leser:innen können sich so problemlos ihre eigene Welt schaffen und den Figuren ein Gesicht geben, ohne von zu vielen Informationen überfrachtet zu werden. Etwas, das längst nicht allen Autor:innen dieses Genres gelingt.

Auch die Figuren gefallen mir prinzipiell. Sie sind gut vorstellbar und nicht unsympathisch. Aber trotzdem, so richtig konnte ich mich nicht in die Heldin einfinden. Dennoch: Ich fiebere mit ihnen mit, leide und will die Geheimnisse lüften, die Frederik mir und der Protagonistin hinterlassen hat. Sauge jeden Brotkrumen auf, gierig auf mehr. Muss ich da also noch etwas zum Spannungsbogen sagen? Ich denke nicht.

Fazit: Dieser Thriller ist genauso fesselnd, wie ich es mir erhofft hatte und ich konnte das Buch bis zu letzten Sekunde nicht aus der Hand legen. Wenn Sie also durchlesen Nächste, Augenringe und Monster unter dem Bett mögen, dann sind Sie hier genau richtig.

Frederik P. Winter: „Der Gräber“, Harper Collins, 448 Seiten, ISBN 978-3749902286, Preis: 12,00 Euro.


Das verlorene Paradies

Abdulzarak Gurnah: „Das verlorene Paradies“

Abdulzarak Gurnah: „Das verlorene Paradies“

Abdulzarak Gurnah:

Das verlorene Paradies

Abdulrazak Gurnah erzählt in seinem Roman, der bereits 1994 auf Deutsch erschienen war und jetzt anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises neu aufgelegt wurde, die Geschichte des Erwachsenenwerdens von Yusuf. Historischer Hintergrund der Geschichte, die an der Küste Ostafrikas spielt, ist die beginnende deutsche Kolonialherrschaft, die erst nach und nach wahrnehmbar wird. Während die Menschen in der alten Welt konkret wahrnehmbar sind, anschaulich gezeichnet werden und alle einen Namen tragen, bleibt die Kolonialherrschaft zunächst abstrakt, die Europäer und Deutschen haben keine Namen. Nur die Gewaltförmigkeit lässt sich erahnen.

Ohne Chance auf eine Rückkehr

Yusuf ist zwölf Jahre alt, als er von seinen Eltern seinem vermeintlichen Onkel Aziz, der ein reicher Karawanenhändler ist, mitgegeben wird in eine fremde Stadt, wo er für den „Onkel“ in seinem Geschäft arbeiten muss. Nach und nach wird Yusuf deutlich, dass Aziz kein Onkel ist, sondern dass er von seinen Eltern verpfändet wurde, um ihre Schulden zu begleichen – letztlich ohne Chance auf eine Rückkehr. Die Welt Ostafrikas ist eine der Vielfalt von Ethnien und Religionen, in der aber die Anderen zumeist als unzivilisiert gesehen und als „Wilde“ bezeichnet werden – übrigens auch die deutschen Kolonialherren.

Der Untergang der bisherigen Welt wird deutlich bei einer langen Handelsreise, die Yusuf ins Landesinnere führt, die auch die Unerbittlichkeit von Natur und Machtverhältnissen vor Augen führt.

Kein Paradies

Gurnah erzählt mit leichter Hand und schildert das Zusammenleben der Menschen, aber lässt auch die Landschaften und die Natur anschaulich und erlebbar werden. Eine Welt mit der ihr eigenen Kultur – besser Kulturen – ging verloren, wurde zerstört – ein Paradies aber war auch diese Welt nicht.

Abdulrazak Gurnah: „Das verlorene Paradies“, Penguin Verlag 2021, 336 Seiten, ISBN 978-3328602583, Preis: 25,00 Euro

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Sieben kurze Lektionen über Physik

Carlo Rovelli: Sieben kurze Lektionen über Physik

Carlo Rovelli: Sieben kurze Lektionen über Physik

Carlo Rovelli:

Sieben kurze Lektionen über Physik

Hatten Sie je das Gefühl, Physik könne unterhaltsam und gar spannend sein? Nun ja, wenn Sie Physiker sind, keine Kunst, aber wer ist das schon.

In der Schule erläuterten Physiker den Unterschied von träger und schwerer Masse, obwohl seit Einstein und Nachfolgern klar war, dass die beiden äquivalent sind – es also den Unterschied nicht gibt.

Und im Deutsch-Unterricht grübelten wir mit Faust darüber, „was die Welt im Innersten zusammen hält“, aber Physiker hatten herausgefunden und Militärs angewendet, was das Innerste der Welt zersprengt.

Das Schwierigste an der Physik sind nicht ihre verblüffend bis aller Alltagserfahrung widersprechenden Aussagen über die Welt, die anders ist als wir sie an-sehen. Das Schwierigste ist die Sprache der Physik, ihre ins Mathematische übertragenen Aussagen.   V = b mal t ist nachvollziehbar, aber die Beschreibung des Weges, den ein Körper im freien Fall zurücklegt ist dann schon ein Fall für Raum-Zeit Künstler und ihre Kenntnisse in Tensoren, Matritzen und ähnlichem aus der Höheren Mathematik.

Seit mich vor Jahrzehnten die Neugier gepackt hat, zumindest verstehen zu wollen, worum es geht in der Physik des ganz Großen (Weltall) und des ganz Kleinen (Quantentheorie) habe ich gelernt bescheiden zu sein und auf Menschen zu warten, die mir, dem mathematischen Laien, ihre Fachsprache in Deutsch übersetzen. Einer, der die hervorragend kann, ist Carlo Rovelli. Ich empfehle zwei Bücher von ihm: Das Bändchen „Sieben kurze Lektionen über Physik“ und „Helgoland“.

Carlo Rovelli: „Sieben kurze Lektionen über Physik“, Rowohlt-Verlag, 96 Seiten, ISBN 978-3-498-05804-3, Preis: 10,00 Euro.
Carlo Rovelli: „Helgoland – Wie die Quantentheorie unsere Welt veränderte“, Rowohlt-Verlag, 208 Seiten, ISBN 978-3-498-00220-6, Preis: 22,00 Euro.

Carlo Rovelli: Helgoland – Wie die Quantentheorie unsere Welt veränderte

Carlo Rovelli:

Helgoland – Wie die Quantentheorie unsere Welt veränderte


Kurze Geschichte des Antisemitismus

Peter Schäfer: Kurze Geschichte des Antisemitismus

Peter Schäfer: Kurze Geschichte des Antisemitismus

Peter Schäfer:

Kurze Geschichte des Antisemitismus

Zum Thema Antisemitismus gibt es eine schier unüberschaubare Anzahl an Publikationen. Der ehemalige Direktor des Jüdischen Museums Berlin hat hier einen hervorragenden Überblick über die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis heute vorgelegt, der schon nach kurzer Zeit zum Standardwerk geworden ist. Die gesamte Darstellung ist kenntnisreich und immer an den Quellen orientiert.

Prägende Themen und Muster

Zu Beginn begründet Schäfer, warum er für die ganze Geschichte den Begriff Antisemitismus benutzt, obwohl dieser erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der rassistischen Variante entstanden ist. Für ihn sind die zu Beginn entstandenen Themen und Muster so prägend, dass er die Zusammenhänge betonen will und nur bei besonderen Ereignissen andere Begriffe – wie etwa Antijudaismus – verwendet. Auch wenn man diese Begriffsverwendung skeptisch sieht, ist sein Ansatz eine sinnvolle und fruchtbare Arbeitsgrundlage.

Schäfer beginnt seine Darstellung mit der vorchristlichen griechisch-römischen Antike, für er nachweist, dass die für Juden identitätsstiftenden Merkmale und Bräuche als menschenfeindlich diffamiert wurden und der Hass auf die Juden schließlich in Alexandria schon zu ersten Pogromen führte. Er zeigt, dass im Laufe der Geschichte bestimmte antisemitische Chiffren und Muster immer wieder aktualisiert und ergänzt werden konnten, um so jeweils neu ihre Wirksamkeit entfalten zu können. Am wirksamsten waren für ihn dabei die mit dem Christentum entstandenen Feindbilder.

Verdrängtes neigt zur Wiederkehr

In übersichtlichen Kapiteln führt Schäfer seine „Kleine Geschichte“ bis in die Gegenwart fort und thematisiert auch gegenwärtig diskutierte Problemfelder wie islamischen Antisemitismus oder die Debatte um Israelkritik und Antisemitismus kenntnisreich und überzeugend differenziert. Dabei bleibt der Text immer gut lesbar. So konnte ich viel Neues erfahren oder bekannte Sachverhalte besser einordnen – eine sehr lohnende Lektüre!

Nicht zuletzt um aktuelle Entwicklungen und Diskussionen einordnen zu können, ist Schäfers Werk von hohem Wert. Auch wenn eine Erkenntnis aus der Geschichte zu sein scheint, dass Antisemitismus „nie ein für alle Mal überwunden sein wird“, helfen vor allem die bewusste Auseinandersetzung gegen Antisemitismus und dessen Aufarbeitung, denn Verdrängtes neigt zur Wiederkehr.

Peter Schäfer: Kurze Geschichte des Antisemitismus, C.H. Beck 2020, 335 Seiten, ISBN 978-3406755781, Preis: 26,95 Euro. | Ende April 2022 wird eine günstigere Taschenbuchausgabe im Piper-Verlag erscheinen.

Nichts muss so bleiben, wie es ist

Heinrich Missalla: „Nichts muss so bleiben, wie es ist“.

Heinrich Missalla: „Nichts muss so bleiben, wie es ist“.

Heinrich Missalla:

Nichts muss so bleiben, wie es ist

Erst jetzt habe ich die autobiografischen Aufzeichnungen des 2018 verstorbenen Priesters, Theologieprofessors und langjährigen geistlichen Beirats der katholischen Friedensbewegung pax christi kennengelernt. Mich hat das Buch gerade in seiner recht nüchternen Sprache und teils harten Analyse sehr angesprochen und zum eigenen Nachdenken angeregt – ob sich allerdings viele Menschen überhaupt noch für ein „katholisches Leben im 20. Jahrhundert“ interessieren, vermag ich nicht zu sagen.

Bewusste ideologische Distanz

Geboren im Jahr 1926 und aufgewachsen in einem geschlossen katholischen Milieu im Ruhrgebiet, beschreibt er die Atmosphäre in der Familie, seine Erfahrungen in Schule und Hitlerjugend und wie er geprägt wurde durch kirchliche Einflüsse. Allerdings bewahrt ihn seine bewusste ideologische Distanz zu den Nationalsozialisten, gar die Einsicht in die Unvereinbarkeit von Katholisch- und Nazi-Sein, nicht davor, den Dienst als Luftwaffenhelfer und weiteren Einsatz während des Krieges als selbstverständliche religiöse und vaterländische Pflicht zu verstehen. Diese Erkenntnis und das – über lange Zeit verdrängte – Erschrecken darüber, wie der staatliche Drill ihn bereit machte, die Waffe gegen andere Menschen zu richten, bleibt prägend für sein späteres Leben und seine gesellschaftliche und theologische Reflexion. Doch nach dem Krieg muss er erfahren, dass weder in der Gesellschaft noch in der Kirche die entstandenen Fragen so bearbeitet wurden, wie es nötig gewesen wäre, so etwa die Verstrickung der katholischen Seelsorge im Krieg, die er zu einem seiner wissenschaftlichen Themen macht.

Fragen und Suchen

In seinem beruflichen und ehrenamtlichen Engagement wird ihm der Wirklichkeitsverlust und die Reformunwilligkeit und -unfähigkeit der römischen Kirche immer deutlicher. Statt den angeblichen Besitz ewiger Wahrheiten zu hüten und zu verwalten, wird ihm das Fragen und Suchen immer wichtiger – nach Lebensformen, die dem Evangelium und einer geschwisterlichen Gemeinde entsprechen und nach Konfrontation des Glaubens mit der erfahrenen Wirklichkeit. Deshalb engagiert er sich für die Ökumene und christlich-jüdische Verbundenheit, vor 1989 sind ihm Beziehungen in die Kirchen der DDR wichtig und lebenslang das Eintreten für friedenspolitische Themen. Auch wenn der Glaube persönlich ist, privat ist er niemals.

In den letzten Kapiteln des Buches hält Missalla für ihn wesentliche Einsichten und Möglichkeiten fest. Bei aller scharfer Kritik schiebt er Verantwortung für Fehlentwicklungen nicht einfach ab auf andere Personen und hierarchische Instanzen, sondern bedenkt immer auch eigene Verantwortung. Eine – erfreuliche – persönliche Entwicklung: Mit 70 Jahren heiratet Missalla und findet hier Erfüllung, auch wenn es den Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis zur Folge hat. Was ihm am Ende bleibt: Das Vertrauen auf den Gott der Bibel.

Heinrich Missalla: „Nichts muss so bleiben, wie es ist“. Mein katholisches Leben im 20.Jahrhundert, Publik-Forum Edition 2009, 224 Seiten, ISBN 978-3880951877, Preis: 14,80 Euro.

Treideln

JULI ZEH: TREIDELN

JULI ZEH: TREIDELN

JULI ZEH:

TREIDELN

„Vielleicht kennen Sie das Gefühl: Wie sich Beklommenheit beim Lesen eines guten Essays schlagartig in Euphorie verwandelt. Welche Erleichterung es darstellt, wenn sich ein Text nicht vor der angeblichen Dummheit der Leser verbeugt. Wenn um des Nachdenkens willen nachgedacht wird. … Die Delegation von kritischem Bewusstsein an die Befugten der Expertokratie ist heutzutage wahrscheinlich die häufigste Form von selbstverschuldeter Unmündigkeit.“

D a s ist auch Juli Zeh: Sperrig, zumutend, frech, humorvoll. Eine durch und durch am politischen Diskurs interessierte Schriftstellerin, die unserer Gesellschaft schmerzhaft den Finger in die Wunde unbeantworteter Fragen legt. Oder scheinbar beantwortete Fragen als sekundenkleberfeste wenig differenzierte Vorurteile  entlarvt. Ein Treidler zieht ein schweres Schiff an Seilen stromaufwärts – ein schwerer, ein heute ausgestorbener Beruf. Juli Zeh erlebt genau dies als die  Aufgabe  einer Schriftsteller*in: Gegen den gesellschaftlichen Mainstream zieht sie unbequeme Schiffe mithilfe sprachlicher Zugseile quer durch unseren Alltag.

TREIDELN ist eine wunderbare Zumutung! Ein Mail-Roman, der uns in die Werkstatt einer SCHRIFTSTELLER*IN blicken lässt … wo um jede Aussage gerungen wird, an jedem Wort gefeilt, jede „Wahrheit“ gnadenlos hinterfragt wird. Manch eine/r nennt es Arroganz …

Julia Zeh: „Treideln“, Verlag btb, 208 Seiten, ISBN 978-3-442-74814-3, Preis: 10,00 Euro.