Klub Druschba

Rebecca Maria Salentin: Klub Druschba

Rebecca Maria Salentin: Klub Druschba

Rebecca Maria Salentin:

Klub Druschba

“Ich bin weder mutig noch trainiert. Ich ächze und schnaufe bei jeder Treppenstufe, breche bei der kleinsten Anstrengung in Schweiß aus, werde beim Radfahren von Rentnern überholt, habe Angst vor Spinnen, Hunden, vor Gewitter, tiefen Seen und steilen Höhen, ich fürchte mich im Wald …“ Derart (un)vorbereitet tritt die Autorin Rebecca Maria Salentin die 2.700 km lange Wegstrecke zu Fuß auf dem EB, dem Weg von Eisenach nach Budapest, an. Zudem reißt sie alle Brücken in Leipzig ab. Sie kündigt ihre Wohnung und will erst auf dem Weg überlegen, wie es hinterher weitergehen wird.

Schwerfälliger Start

Diese Ausgangssituation hat mich fasziniert. Dennoch habe ich kurz überlegt, ob ich dieses Buch empfehlen soll. Denn, ehrlich gesagt, kam das Buch zu Beginn für mein Empfinden ein wenig schwerfällig in Gang, zu viel Ballast, z.B. den Bruch einer langen Beziehung, schleppt sie anfangs noch mit sich und erzählt davon. So brauchte ich ein wenig Geduld, bis ich wirklich auf dem Weg angekommen war. Doch mit jedem Kilometer fand ich die Erzählung über diese ungewöhnliche Reise lohnender. Sie beschreibt Begegnungen mit unbekannten Menschen, neue Beziehungen entstehen. Alte Freunde begleiten sie wechselnd für ein paar Tage. Es finden sich schöne Schilderungen von Fremdem und Vertrautem, Land und Leuten, die sie neu kennenlernt in Deutschland, Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Und natürlich begegnet sie all dem, wovor die Angst hat(te): heftigen Gewittern, dunklen Wäldern, Bärenspuren, steilen Bergen …

Sich selbst begegnen

So begegnet Rebecca Salentin nicht nur unbekannten Landschaften und Menschen, sondern auch sich selbst neu – das ist ja bei jedem wirklichen Weg so. Und die Erkenntnis: Aus einer verrückten Idee „wurde eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Trotzdem freue ich mich auf zu Hause. Ich würde den Satz, dass es zu Hause am schönsten ist, nicht unterschreiben. Aber ich würde sagen, dass es unglaublich schön ist, wenn man ein Zuhause hat …“

Ich selbst werde diese 2.700 km in meinem Leben sicher nicht gehen; dennoch war es gut, mich mit Rebecca Salentin auf den Weg zu begeben. Und wer weiß, vielleicht besuche ich ja den ein oder anderen Ort, den sie beschreibt.

Rebecca Maria Salentin: Klub Druschba. 2700 km zu Fuß auf dem Weg der Freundschaft von Eisenach bis Budapest, Verlag Voland & Quist 2021, 320 Seiten, ISBN 978-3863912970, Preis: 20,00 Euro.

Nachruf auf mich selbst

Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens

Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens

Harald Welzer:

Nachruf auf mich selbst.

Harald Welzer, einer der anregenden und streitbaren Intellektuellen der Bundesrepublik, legt mit seinem neuen Buch eine schonungslose Analyse der Irrwege in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft vor, die uns schließlich in die Klimakrise und vor die Klimakatastrophe geführt haben. Dabei ist dieses Buch sehr persönlich motiviert durch die Erfahrung, bei einem Herzinfarkt mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert worden zu sein.

Auf Wachstum angelegt

Im ersten Teil des Buches führt Welzer die Widersinnigkeit vieler Entscheidungen vor Augen, die nur vorgeben, Lösungen aus der Krise anzubieten, denen es aber nicht gelingt, die Probleme an der Wurzel zu fassen. Die Wurzel sieht Welzer in der Anlage der europäischen Moderne selbst, die nicht in der Lage war, eine „Kultur des Aufhörens“ zu entwickeln, sondern immer auf das Mehr, das Höher, Weiter, Schneller, auf Wachstum angelegt ist. Immer wieder scheint Welzers Empörung über diese Situation und deren Konsequenzen auf, auch über die Lebenslügen der Wachstumsgesellschaft, was sich an einigen Stellen auch sprachlich an für ihn ungewohnt derben Begriffen zeigt.

In seiner Analyse und Suche nach Gründen für die Unfähigkeit unserer Kultur, die eigenen Grenzen und die Endlichkeit anzuerkennen, verknüpft Welzer kenntnisreich die unterschiedlichsten Wissenschaftsbereiche. So wird auch deutlich, dass die Entwicklungen seit der Zeit der Aufklärung mit ihren Säkularisierungstendenzen zu einer Unsterblichkeitsillusion geführt haben. Es ist klar, dass im Zusammenhang mit Themen wie Tod und Sterblichkeit auch die religiöse Dimension gestreift wird, wobei ich persönlich mir da ein wenig mehr Kenntnis „aufgeklärter“ Theologie gewünscht hätte. Andererseits ist es für mich beim Lesen beeindruckend gewesen, wie es gelingt, so etwas wie eine säkulare Frömmigkeitshaltung zu entwickeln.

Perspektivwechsel nach Herzinfarkt

Das ist wohl vor allem ausgelöst durch die Erfahrung seines Herzinfarkts, der ihn zu einem Perspektivwechsel veranlasst hat. Nach seiner Einschätzung sollten nicht nur die Individuen ihr Leben vom Ende her denken, sondern auch der Gesellschaft täte es gut, einen Nachruf auf sich selbst zu verfassen, um Leitlinien und Maßstäbe für ein gutes Leben zu verfassen. In diesem Sinne erzählt Welzer recht breit biografische Beispiele des Aufhörens (z.B. im Gespräch mit Reinhold Messner), die er verallgemeinert, um so dessen Wert und Gewinn zu verdeutlichen: als Chance des wirklichen Neubeginns und „Feier des Lebens“.

Schließlich formuliert Welzer 15 Sätze, die er – durchaus auch selbstkritisch – im Nachruf auf sich selbst lesen möchte. Das geht von „Er konnte gut Zeit verschwenden“ bis hin zur – für mich – zentralen Formulierung „Er hat keine Entscheidungen getroffen oder mitgetragen, die zukünftige Menschen in ihrer Entfaltung beeinträchtigen.“ Bei allen Sätzen stehen immer die Menschen im Mittelpunkt und die Überzeugung, dass jeder Mensch Handlungsspielräume hat und den „Unterschied machen“ kann für eine lebenswerte Zukunft auch der künftigen Generationen.

Anregungen für eigene Überlegungen

Am Ende bietet Welzer nicht – wie ich noch zu Beginn meiner Lektüre gedacht und erwartet hatte – „die Lösung“ für die politische Dimension zur Abwendung der Klimakatastrophe, aber viele Anregungen für eigene Überlegungen und hoffentlich Anstöße für die gesellschaftliche Debatte. Und das ist ja schon viel.

Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens, S. Fischer 2021, 288 Seiten, ISBN 978-3103971033, Preis: 22,00 Euro.

Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten

Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten

Alice Hasters:

Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten

Die Journalistin Alice Hasters, 1989 in Köln geboren, beschreibt im Buch ihre vielfältigen Erfahrungen von Rassismus in verschiedensten Lebensbereichen. Auch harmlos klingende Fragen – „Darf ich mal deine Haare anfassen“ – oder als Kompliment gemeinte Äußerungen – „Du hast einen richtig schönen N**erpopo“ – sind Ausdruck rassistischer Einstellungen, so ihre Grundthese. In den Bereichen Alltag, Schule, Körper, Liebe und Familie wird diese durchbuchstabiert. Dabei belässt Hasters es nicht bei der Beschreibung eigener Erfahrungen, sondern sie bezieht auch wissenschaftliche Erkenntnisse und Literatur kenntnisreich mit ein, um ihre Position zu untermauern. Dabei bleibt der Text immer gut lesbar. Mich hat das Buch an vielen Stellen angestoßen, noch einmal vertieft nachzudenken. Zum Beispiel, ob wir die Tradition der europäischen Aufklärung – ohne die hohe und bleibende Bedeutung von Vernunft, Menschenrechten und Toleranz infrage zu stellen – nicht doch neu erzählen müssten, wenn es von ihren prominenten Vertretern rassistische Äußerungen gibt. Auch wenn ich am Ende nicht allen Wertungen der Autorin zustimme, so habe ich das Buch trotzdem mit Gewinn gelesen.

Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten, hanserblau 2019, 224 Seiten, ISBN  978-3446264250, Preis: 17,00 Euro.

Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

Andre Heller: Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

Andre Heller: Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

André Heller:

Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

Der vielseitig begabte und engagierte Wiener Multimediakünstler, Poet, Liedermacher, Kulturmanager und Schauspieler André Heller verwebt in dieser Erzählung eigene Kindheitserinnerungen kreativ mit phantasievollen Einfällen zu dieser Erzählung um den Jungen Paul. Paul besucht auf Geheiß des Vaters ein erzkatholisches Internat: „Am falschen Ort und bei den falschen Leuten … Künftige Kirchenfürsten und Minister der christlichen Volkspartei, Generaldirektoren bürgerlicher Großbanken und Universitätsprofessoren züchtete man dort. Aber ich hatte anderes mit mir vor.“ Weltmeister im Unsichtbarsein oder Taucher im Inneren des Vesuvs wollte Paul werden und entwickelt Gegenstrategien. Zur Bestattung des Vaters reisen Pauls Onkel aus Übersee an und geben Anekdoten aus dem schillernden Leben der Silbersteins, einer jüdischen Wiener Großindustriellenfamilie, zum Besten. Onkel York hat auch einen Ratschlag für Paul: „Hör zu: Geboren wird man als Entwurf zu einem Menschen, und dann muss man Zeit seines Lebens aus sich einen wirklichen Menschen machen.“

Eine unterhaltsame und wunderbar zu lesende Erzählung voller Phantasie und Poesie!

André Heller: Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein, S. Fischer 2008, 144 Seiten, ISBN 978-3100302090, Preis: 16,90 Euro.

Aufbrechen

Tsitsi Daganrembga: Aufbrechen

Tsitsi Daganrembga: Aufbrechen

Tsitsi Dangarembga:

Aufbrechen

„Ich war nicht traurig, als mein Bruder starb.“ Dieser erste Satz des Romans hat mich gleich in die Geschichte des jungen Mädchens Tambu hineingezogen. Die Geschichte spielt in den 1960er und 70er Jahren in Simbabwe – bis 1965 noch britische Kolonie und noch bis 1980 Rhodesien genannt. Sehr anschaulich wird der Kampf Tambus um Bildung, Anerkennung und Gleichberechtigung geschildert – ihre Herkunft aus Armut und Kinderarbeit im Dorf, der neidische Blick auf den Bruder, der die Missionsschule in der Stadt besuchen darf, die patriarchalen Strukturen in ihrer Familie und der Gesellschaft. Als Tambu schließlich selbst städtische Schulen besuchen darf, erfährt sie auch die koloniale Bevormundung im Land am eigenen Leib. Die Teilhabe an der britisch geprägten Bildung stellt sie vor die Frage der eigenen Zugehörigkeit: „Sag mir Tochter, was werde ich, deine Mutter, dir zu sagen haben, wenn du nach Hause kommst, eine Fremde voller weißer Gewohnheiten und Ideen?“ – so formuliert es Tambus Mutter bei ihrem Fortgang in die Stadt.

Der Roman ist im Original bereits 1988 erschienen; doch auch heute ist das Buch der Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels von 2021 immer noch lohnend und trägt zum besseren Verständnis Afrikas bei. Gewünscht hätte ich mir ein erweitertes Glossar, um leichter in die afrikanischen Begriffe und Vorstellungswelten hineinzukommen.

Tsitsi Dangarembga: Aufbrechen, Orlanda Verlag 2019, 280 Seiten, ISBN 978-3-944666600 Preis: 22,00 Euro.

Die Nickel Boys

Colson Whitehead: Die Nockel Boys

Colson Whitehead: Die Nockel Boys

Colson Whitehead:

Die Nickel Boys

Colson Whitehead erzählt auf packende Weise die Geschichte von Elwood, der Anfang der 1960er Jahre in Florida im Ghetto der Schwarzen bei seiner Großmutter aufwächst. Mit Martin Luther King und seinen Reden, die er wieder und wieder von der Platte hört, träumt Elwood von der Befreiung und Gleichberechtigung der Schwarzen, die so anders sein wird als die erlebte Gegenwart der Diskriminierung und Ausgrenzung. Sein persönlicher Traum, aus dem Ghetto herauszukommen, scheint in Erfüllung zu gehen, als er einen Platz am College erhält. Stattdessen gerät Elwood in eine Erziehungsanstalt voller Brutalität und Willkür. Die Ohnmacht angesichts der gewaltvollen Strukturen wird erlebbar. Eine Flucht aus der Anstalt ist aussichtslos, auch wenn der Traum von Martin Luther King lebendig bleibt. Am Ende hält der Roman eine überraschende Wendung bereit.

Offenbar muss man – wie Whiteheads Roman zeigt – selbst kein Schwarzer sein, um klar und unmissverständlich den Rassismus der US-Gesellschaft darzustellen und die Leserinnen einfühlsam mitzunehmen in diese Geschichte. Aber Achtung: Man muss sich darauf gefasst machen, dass die rassistische Sprache der Zeit im Text ohne Warnung benutzt wird, man also auch das N**-Wort zu lesen bekommt. Wie sonst sollte es gehen, diese Zeit verständlich zu
machen und den Rassismus, der ja bis heute nicht vorüber ist, aufzuzeigen?

Colson Whitehead: Die Nickel Boys, btb Verlag 2020, 240 Seiten, ISBN 978-3442770427, Preis: 12,00 Euro

Deutsches Haus

Annette Hess: Deutsches Haus

Annette Hess: Deutsches Haus

Annette Hess:

Deutsches Haus

„Deutsches Haus“ ist der erste Roman der Drehbuchautorin Annette Hess. Der Roman nimmt uns mit ins Jahr 1963 nach Frankfurt, wo der Auschwitzprozess stattfand, der die bundesdeutsche Wohlstandsgesellschaft zum ersten Mal mit den nationalsozialistischen Verbrechen konfrontierte, auch wenn viele damals lieber nichts davon und von eigenen Verstrickungen wissen wollten.

Die junge und recht unbedarfte Eva wird zunächst vertretungsweise als Dolmetscherin für Polnisch in den Prozess hineingezogen. Ihre Familie und der Verlobte lehnen dies ab; aber auch gegen deren Willen nimmt sie die Arbeit an und erfährt immer mehr, wie bedeutend es ist, dass die Opfer zu Wort kommen und sie ihnen ihre Stimme gibt. Die Grauen im Vernichtungslager werden deutlich, ohne den Leser übermächtig zu erdrücken und hilflos zu machen. Mehr Raum im Roman nehmen ohnehin die Geschichten außerhalb des Gerichts ein, wobei nach und nach deutlich wird, welche Erinnerungen die verschiedenen Personen mit sich schleppen.

Nach meiner Einschätzung könnte man auf einige der Seitengeschichten im Roman verzichten – warum z.B. vom Zahnarztbesuch der Mutter von Eva erzählt werden muss, erschließt sich mir nicht. Dennoch: Auch wenn es keine große Literatur ist, gelingt es dem Buch recht anschaulich und bildhaft die Atmosphäre in Deutschland Mitte der 1960er Jahre – auch die Bevormundung der Frauen, die Ankunft der „Gastarbeiter – mit unterschiedlichen und widersprüchlichen Charakteren und Interessen einzufangen, was wohl auch den Vorerfahrungen von Annette Hess als Drehbuchautorin zu verdanken ist. So steht „Deutsches Haus“ nicht nur für die Gaststätte, die von Evas Eltern betrieben wird, sondern für die deutsche Gesellschaft in der Mitte der 1960er Jahre.

Annette Hess, Deutsches Haus, Ullstein 2018, 368 Seiten, ISBN 978-3550050244, Preis: 20,00 Euro.

Widerstand ist zwecklos – Nein!

Lea Loss: Widerstand ist zwecklos

Lea Loss: Widerstand ist zwecklos

Lea Loss:

Widerstand ist zwecklos –Nein!

Ein Comic über gewaltlosen Widerstand

Im Pflegeheim in Altenburg proben „die Alten“ den Aufstand angesichts von Zuständen (nicht nur) beim Essen, die sie als unzumutbar empfinden, wobei auch das Pflegepersonal angegriffen wird. Das mag ein wenig konstruiert sein, ist aber Ausgangspunkt einer informativen und unterhaltsamen Einführung in die Theorie und Praxis gewaltlosen Widerstands. Eine Familie vor dem Fernseher diskutiert über die Legitimation und Wirksamkeit von widerständigen Aktionen. Die Grundthese des Buches besagt, dass das Prinzip der Gewaltlosigkeit zu erfolgreicheren Protesten führt als der Einsatz von Gewalt.

Im Laufe des Comics bekommt die Familie Besuch von internationalen wissenschaftlichen Expert*innen, die sich mit der Geschichte der Gewaltlosigkeit beschäftigt haben und ihre Erkenntnisse über die Bedingungen der Wirksamkeit des Handelns kurz und bündig vorstellen. Eingestreut sind dort knappe lexikalische Einträge zu führenden Gewaltfreien – nicht nur Gandhi und Martin Luther King. Der Comic mag anregend sein für eigene Überlegungen, für Diskussionen, vielleicht auch zur vertieften Beschäftigung mit dieser Materie.

Lea Loss, Widerstand ist zwecklos – Nein!, avant-Verlag 2021, 154 Seiten, ISBN 978-3964450555, Preis: 16,00 Euro.

Annette, ein Heldinnenepos

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos

Anne Weber:

Annette, ein Heldinnenepos

Das 2020 mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnete Buch hat einen ganz besonderen Rhythmus, der mich mitgenommen hat in die Geschichte der Anne Beaumanoir. Schon zu Beginn wird klar, dass es keine glatte Heldinnengeschichte ist, sondern eine voller Widersprüche: „Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.“

Anne hat sich als junges Mädchen dem kommunistischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg angeschlossen. Man (frau hoffentlich auch) wird mitgenommen in die Gedankenwelt der widerständigen Frau, in ihr Ringen um das, was sie antreibt und zweifeln lässt in ihrem Handeln. Gegen die Anweisungen der kommunistischen Zentrale rettet sie zwei jüdische Kinder – „ohne Grund oder nur aus dem einen, dass sie ein Mensch ist und sie auch Menschen sind“. Nach dem Krieg könnte das Leben in ruhige Bahnen kommen, Anne wird Ärztin, heiratet, hat Kinder. Doch sie engagiert sich für die Befreiung Algeriens von französischer Kolonialherrschaft. Sie muss schließlich vor Strafverfolgung nach Nordafrika fliehen und ihre Kinder zurücklassen. Immer will Anne streiten für eine bessere Welt, auf der richtigen Seite stehen – aber wo diese ist, ist nicht immer klar. So wird das Bild der Heldin vielfach gebrochen, was dieses Buch lesenswert macht. Dennoch: Am Ende ihres Lebens ist Anne zwar klein und krumm – aber „auch nur von außen; im Innern ist sie gerade.“

Ich habe mir viele schöne und nachdenkenswerte Sätze im Buch markiert.

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos, Matthes & Seitz 2020, 208 Seiten, ISBN 978-3957578457, Preis: 22,00 Euro.

Hast Du uns endlich gefunden

Edgar Selge: Hast Du uns endlich gefunden

Edgar Selge: Hast Du uns endlich gefunden

Edgar Selge:

Hast Du uns endlich gefunden

Zunächst war ich durchaus skeptisch: Schon wieder ein Schauspieler, der meint schreiben zu müssen? Doch Edgar Selge hat mich mit seiner Kindheits- und Familiengeschichte um 1960 völlig überzeugt. Er gibt ohne sentimental zu werden fesselnde Einblicke in seine zerrissene Kindheit.

Sein Vater war Gefängnisdirektor in der ostwestfälischen Provinz, geprägt von der noch nicht lange zurückliegenden NS-Zeit; doch seine Leidenschaft galt der Musik. Die Corona-Zeit hat Selge Räume gegeben, die Kindheit neu zu durchdringen. Im Traum erscheint seine Mutter, daher der Titel: „Hast du uns endlich gefunden“. So lebt die Kindheit wieder auf: die erfahrene Gewalt und die Angst davor, seine Fluchten in Lügen und ins Kino, die Begegnungen mit der Gefängniswelt, die Auseinandersetzungen seiner älteren Brüder mit dem autoritären Vater … Und sein Wille zu überleben: „Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.“

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Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden, Rowohlt Verlag 2021, 304 Seiten, ISBN 978-3-498-00122-3, Preis: 24,00 Euro.