Harald Welzer:
Nachruf auf mich selbst.
Harald Welzer, einer der anregenden und streitbaren Intellektuellen der Bundesrepublik, legt mit seinem neuen Buch eine schonungslose Analyse der Irrwege in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft vor, die uns schließlich in die Klimakrise und vor die Klimakatastrophe geführt haben. Dabei ist dieses Buch sehr persönlich motiviert durch die Erfahrung, bei einem Herzinfarkt mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert worden zu sein.
Auf Wachstum angelegt
Im ersten Teil des Buches führt Welzer die Widersinnigkeit vieler Entscheidungen vor Augen, die nur vorgeben, Lösungen aus der Krise anzubieten, denen es aber nicht gelingt, die Probleme an der Wurzel zu fassen. Die Wurzel sieht Welzer in der Anlage der europäischen Moderne selbst, die nicht in der Lage war, eine „Kultur des Aufhörens“ zu entwickeln, sondern immer auf das Mehr, das Höher, Weiter, Schneller, auf Wachstum angelegt ist. Immer wieder scheint Welzers Empörung über diese Situation und deren Konsequenzen auf, auch über die Lebenslügen der Wachstumsgesellschaft, was sich an einigen Stellen auch sprachlich an für ihn ungewohnt derben Begriffen zeigt.
In seiner Analyse und Suche nach Gründen für die Unfähigkeit unserer Kultur, die eigenen Grenzen und die Endlichkeit anzuerkennen, verknüpft Welzer kenntnisreich die unterschiedlichsten Wissenschaftsbereiche. So wird auch deutlich, dass die Entwicklungen seit der Zeit der Aufklärung mit ihren Säkularisierungstendenzen zu einer Unsterblichkeitsillusion geführt haben. Es ist klar, dass im Zusammenhang mit Themen wie Tod und Sterblichkeit auch die religiöse Dimension gestreift wird, wobei ich persönlich mir da ein wenig mehr Kenntnis „aufgeklärter“ Theologie gewünscht hätte. Andererseits ist es für mich beim Lesen beeindruckend gewesen, wie es gelingt, so etwas wie eine säkulare Frömmigkeitshaltung zu entwickeln.
Perspektivwechsel nach Herzinfarkt
Das ist wohl vor allem ausgelöst durch die Erfahrung seines Herzinfarkts, der ihn zu einem Perspektivwechsel veranlasst hat. Nach seiner Einschätzung sollten nicht nur die Individuen ihr Leben vom Ende her denken, sondern auch der Gesellschaft täte es gut, einen Nachruf auf sich selbst zu verfassen, um Leitlinien und Maßstäbe für ein gutes Leben zu verfassen. In diesem Sinne erzählt Welzer recht breit biografische Beispiele des Aufhörens (z.B. im Gespräch mit Reinhold Messner), die er verallgemeinert, um so dessen Wert und Gewinn zu verdeutlichen: als Chance des wirklichen Neubeginns und „Feier des Lebens“.
Schließlich formuliert Welzer 15 Sätze, die er – durchaus auch selbstkritisch – im Nachruf auf sich selbst lesen möchte. Das geht von „Er konnte gut Zeit verschwenden“ bis hin zur – für mich – zentralen Formulierung „Er hat keine Entscheidungen getroffen oder mitgetragen, die zukünftige Menschen in ihrer Entfaltung beeinträchtigen.“ Bei allen Sätzen stehen immer die Menschen im Mittelpunkt und die Überzeugung, dass jeder Mensch Handlungsspielräume hat und den „Unterschied machen“ kann für eine lebenswerte Zukunft auch der künftigen Generationen.
Anregungen für eigene Überlegungen
Am Ende bietet Welzer nicht – wie ich noch zu Beginn meiner Lektüre gedacht und erwartet hatte – „die Lösung“ für die politische Dimension zur Abwendung der Klimakatastrophe, aber viele Anregungen für eigene Überlegungen und hoffentlich Anstöße für die gesellschaftliche Debatte. Und das ist ja schon viel.